Die Rebellen von Irland
Formulierungen. Wie war das in einem so zarten Alter möglich? Ebenso gut hätte man fragen können, warum ein Vogel fliegen oder ein Lachs springen konnte.
Außerdem fiel ihm auf, dass der Junge ein reges Innenleben hatte. Es gab Tage, an denen er im Unterricht niedergeschlagen und geistesabwesend wirkte. An solchen Tagen sah O’Toole ihn anschließend meist alleine weggehen und eine stille Zwiesprache mit seiner Umgebung halten, an der niemand teilhaben konnte. Als das blasse Kerlchen acht Jahre alt wurde, liebte ihn der Lehrer fast so sehr, wie Deirdre ihn liebte.
Wären nur diese anderen Tage nicht gewesen, an denen Conall dem Unterricht fernblieb, weil er krank war, und O’Toole zu Garret Smiths Haus eilte und dort die kleine Deidre vorfand, wie sie Conall, an seinem Bett sitzend, mit Fleischbrühe fütterte oder ihm leise vorsang, während der kleine Junge so blass dalag, als könnte er ihnen noch am selben Tag entrissen werden.
Doch dann, vor zwei Jahren, wurde er plötzlich kräftiger. Ein Jahr später wirkte er so robust wie die anderen Kinder. Bald danach zählte er zu den stärksten, und heute war er allen anderen körperlich überlegen. Gleichzeitig bemerkte O’Toole eine neue Zielstrebigkeit im heranreifenden Verstand des Jungen. Er tat sich im Unterricht nicht nur hervor, sondern nahm den Lernstoff gleichsam im Sturm, sodass der Lehrer sich oft genötigt sah, ihm schwierigere Aufgaben zu stellen.
Auch die kleine Deirdre beobachtete diese Entwicklung mit sichtlicher Freude. »Ist er nicht stark?«, rief sie immer wieder. Und O’Toole schien es, als sei seine Enkelin der Ansicht, Conalls Wandlung sei ihr Verdienst. Gleichzeitig aber konnte er ihren Blicken und Bemerkungen, die sie gelegentlich fallen ließ, entnehmen, dass sie hinter diesem neuen Conall immer noch den blassen kleinen Jungen sah, den sie geliebt hatte. Und tatsächlich fiel Conall bisweilen immer noch in diese merkwürdige melancholische Stimmung, und dann gingen die beiden los und unternahmen gemeinsame Spaziergänge auf den Bergpässen.
Außer Deirdre hatte Conall keine engen Freunde. Zwar spielte er oft mit anderen Kindern zusammen, aber es war offensichtlich, dass er ihnen keine Geheimnisse anvertraute. Es gab nur zwei andere Menschen, denen er sich nahe fühlte. Der eine, so dachte O’Toole, war er selbst. Vielleicht. Durch die vielen Unterrichtsstunden hatte sich zwischen Schüler und Lehrer eine gewisse Vertrautheit eingestellt. Der andere war sein Vater.
O’Toole vermutete, dass Garret Smith in jenen Tagen außer seinem Sohn herzlich wenig hatte, wofür er lebte. Seine Trunksucht wurde immer schlimmer, und er sah zwanzig Jahre älter aus, als er tatsächlich war. Ohne seinen Sohn wäre es ihm sicherlich noch viel schlimmer gegangen. Und wenn es ihm bei aller Liebe nicht immer gelang, die bescheidenen Gebühren für die Hedge School pünktlich zu bezahlen, so holte er dies gewöhnlich früher oder später nach. An den Abenden, an denen er nüchtern war, führte er manchmal stundenlange Gespräche mit seinem Sohn. O’Toole hatte sich oft gefragt, worüber sie sprachen, und einmal hatte er Deirdre danach gefragt. Aber sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass Conall einmal zu ihr gesagt hatte: »Mein Vater und dein Großvater sind die einzigen beiden Menschen, die ich wirklich bewundere.«
Wusste der Junge, dass sein Vater im Dorf keine hohe Achtung genoss? Dem Schein nach sprachen die Leute höflich über Garret Smith: »Dein Vater ist ein großer Leser. Er weiß viele Dinge.« Aber wenn sie hinter seinem Rücken hinzufügten: »Er weiß mehr, als er arbeitet, und weniger, als er trinkt«, begann Conall, etwas zu ahnen. Als ein Junge einmal zu laut eine abfällige Bemerkung über seinen Vater machte, schlug Conall ihn zu Boden. Doch hinterher, als es niemand sah, brach er in Tränen aus. Und zu Deirdre sagte er traurig: »Außer dir versteht mich niemand.«
So waren sein Vater und Deirdre die einzigen, die Conall wirklich liebte und denen er vertraute. Und nach ihnen, so sagte sich O’Toole, komme möglicherweise ich.
Aus diesem Grund bekam der Lehrer jetzt quälende Schuldgefühle, als er, während Conall für die Hedge School Wache stand, an das Gespräch dachte, das er am Tag zuvor geführt hatte.
Es lag ihm schwer auf der Seele, dass er den Jungen möglicherweise würde verraten müssen.
***
Kurz nach Mittag verließ Robert Budge, Grundbesitzer und Friedensrichter, sein Haus und machte sich auf den Weg zu
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