Die Rebellen von Irland
grauhaariger Mann in einem schmutzigen Hemd und einem schäbigen alten Mantel. Seine Stiefel waren abgenutzt, und er stützte sich beim Gehen schwer auf Brigids Schulter. Was sie selbst betraf, so war sie ganz offensichtlich eine Dame der Halbwelt, die bessere Tage gesehen hatte.
»Ihr seid mein Vater«, wies sie Lord Edward an, »und ich bringe Euch nach Hause. Morgen bekommt Ihr Eure eigenen Kleider wieder, aber auf der Straße dürft Ihr sie nicht tragen.«
»Welche Strecke gehen wir?«, fragte er.
»Die, die ein Flüchtling niemals gehen würde«, erwiderte Brigid. »Geradewegs am Tor der Burg vorbei.«
Es begann zu dämmern, und sie machten sich auf den Weg. Sie überquerten den Liffey, gelangten zum College Green und gingen von dort die Dame Street entlang und an der Burg vorbei. Die Posten vor dem Tor sahen ihnen mitleidig, aber uninteressiert nach. Wenig später tauchte eine Patrouille vor ihnen auf. Der Offizier trat Brigid in den Weg, um sie zu befragen. Doch Brigid sagte scharf, sie müsse ihren Vater noch vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause in die Liberties bringen. Sie fügte einen Schwall von Obszönitäten hinzu, sodass der Offizier erschrocken zurückwich.
Unter anderen Umständen wären weder Brigid noch Lord Edward zu so später Stunde ohne schützende Begleitung in der Stadt unterwegs gewesen. Wenn sich die Dunkelheit über Dublin senkte, zeigte die Stadt ihr anderes Gesicht: Die Häuser verwandelten sich in schwarze Kulissen, durch die gelegentlich der Schein einer Kerze drang, die Straßen in Schluchten, die Gassen in höhlenartige, dunkle oder von Laternen erleuchtete Eingänge und die Menschen in flüchtige Schatten. Diese Schatten aber waren gefährlich. Ob vor der Christ-Church-Kathedrale oder in der Dame Street oder auch auf dem vornehmen, ruhigen St. Stephen’s Green: Die Gestalt, die in einer Gasse oder am Fuß eines Baums kauerte, konnte ein schlafender Betrunkener oder Almosenempfänger sein, sie konnte aber auch plötzlich aufspringen, einem das Messer an die Kehle setzen und Geld verlangen.
Brigid und ihr Gefährte gelangten unbehelligt in die Liberties.
Sie bogen in eine kleine Straße ein und von dort in eine stinkende Gasse. Vor einer Tür blieben sie stehen, und dort erwartete sie Brigids Bruder. Er führte sie eine knarrende Treppe hinauf und schloss oben ein Zimmer auf. Der bleiche Schein seiner Laterne fiel auf einen hölzernen Stuhl. Auf dem Boden lag Stroh. Hier also sollte Lord Edward Fitzgerald, Nachfahr eines bedeutenden Geschlechts und vieler Fürsten des alten Irland und an das Leben im riesigen Herzogspalast gewohnt, eine kalte Märznacht verbringen.
***
Als am 18. April 1798 die gesamte Belegschaft des Trinity College dazu aufgefordert wurde, vollzählig dem Besuch des gefürchteten Vizekanzlers am folgenden Tag im großen Speisesaal beizuwohnen, wusste der junge William Walsh schon den Grund.
Nach der Verhaftung führender Mitglieder der United Irishmen im März hatte man zur Jagd auf Lord Edward geblasen. Gerüchten zufolge hielt er sich noch in Dublin auf, einige meinten aber auch, er sei bereits nach Frankreich oder sogar Amerika geflohen.
Die Verhaftungen hatten ein neues Ziel ins Blickfeld der Ordnungshüter gebracht: Trinity College. Einige der Verhafteten, darunter Robert Emmets älterer Bruder Tom, hatten dort studiert. Sogar Wolfe Tone war ein Ehemaliger und hatte immer noch Freunde in der Fakultät. FitzGibbon musste sich zu seinem Ärger sagen lassen, dass die Universität, deren Vizekanzler er war, offenbar eine Brutstätte aufrührerischer Gedanken war. Jetzt versuchte man mit allen Mitteln, Unruhestifter auszumerzen. Zwei Studenten, die nachweislich den Eid auf die United Irishmen abgelegt hatten, wurden der Universität verwiesen. Jetzt wollte FitzGibbon eine öffentliche Befragung der gesamten Studentenschaft durchführen. Am Nachmittag davor begegnete William zufällig Robert Emmet und wollte von ihm wissen, wie er sich zu verhalten gedachte.
»Wirst du etwas sagen, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet?«, fragte er.
Denn in den vergangenen Monaten hatte Robert Emmet am Trinity College für eine Überraschung gesorgt. Er war als Student nie aufgefallen, und als er der Historischen Gesellschaft beitrat, hatte niemand erwartet, dass er sich in deren Debatten hervortun würde. Doch gleich bei seiner ersten Wortmeldung hatte er ein bemerkenswertes Redetalent gezeigt. »Er sitzt da still wie eine Maus«, hatte ein Mitglied der Gesellschaft
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