Die Rebellen von Irland
Mehr als einmal musste sie über Leichen steigen, die auf der Straße lagen. Als jedoch die Nachbarn erkrankten, konnte sie es ihm nicht verheimlichen. Sie konnte nur versuchen, Daniel von ihnen fernzuhalten.
Dann kam der Regen, gefolgt von einem Tag, an dem ein eisiger Wind blies. Und dann, am zweiundzwanzigsten, bekam Daniel Fieber.
Sie wusste nicht, was es war. Der Junge glühte. Sie kühlte ihm die Stirn und flößte ihm Flüssigkeit ein. Sie wachte an seinem Bett. Sie spürte, dass er immer heißer wurde, obwohl sie ihn von Kopf bis Fuß in eine feuchte Decke wickelte, um das Fieber aus seinem Körper herauszuziehen. Sie wusste, dass er stark war. Das war das Wichtigste. Am dreiundzwanzigsten hatte sie das Gefühl, dass das Fieber sank. Er war jetzt blass, und seine Augen starrten auf eine Weise, die sie noch nie bei ihm gesehen hatte.
»Du musst jetzt kämpfen, Daniel«, sagte sie. »Du musst ein tapferer Junge sein, und du musst kämpfen.«
»Es tut mir leid, Maureen«, hauchte er. »Ich will es versuchen.«
Dann, am nächsten Morgen, kam der Regen zurück. Ein trostloser grauer Regen, der ein schmutziges nasses Leichentuch über die Lebenden und die Toten breitete. Und während es regnete, schaute sie Daniel in die Augen und sah das, wovor sie sich gefürchtet hatte, diesen Blick, den sie zuvor schon in den Augen von Kindern gesehen hatte, wenn sie den Kampf gegen eine Krankheit aufgegeben hatten.
Was sollte sie tun? Sie konnte doch nicht hierbleiben, seine Hand halten, während er von ihr ging – er, das Letzte, was ihr auf dieser Welt geblieben war. Und so wickelte sie ihn in ein Schultertuch, trug ihn hinaus in den Regen und rannte so schnell sie konnte den ganzen Weg bis zum Fieberspital, wo sie den Jungen an der Tür zeigte und flehte: »Lasst uns hinein.« Doch das Haus war voll belegt, außerdem hätten sie zu viel zu tun, sagten sie zu ihr. »Geht ins Arbeitshaus. Vielleicht kann man euch dort helfen.« Also lief sie wieder hinaus in den Regen, taumelte unter dem Gewicht des Jungen durch den Schlamm, bis endlich der düstere, graue Bau vor ihr auftauchte. Doch auch dort standen Hunderte vor verschlossenen Türen, und es gelang ihr nicht einmal, sich durch die Menge zu zwängen.
Und als sie das Schultertuch zurückschlug, stellte sie fest, dass sie sich die Mühe hätte sparen können, denn irgendwann unterwegs war Daniel gestorben.
***
Am fünfundzwanzigsten Oktober blickte Stephen Smith auf die kalten, nassen Straßen von Ennis hinab. Er war am Abend zuvor angekommen und hatte im Haus Charles O’Connells übernachtet. Was er von seinem Gastgeber erfahren hatte, war zutiefst deprimierend.
»Der Verwaltungsrat des Arbeitshauses hat keinerlei finanzielle Mittel mehr. Gleichzeitig wurde er soeben von der Regierung aufgefordert, den Kredit zurückzuzahlen, den er im Frühjahr für die Arbeitstrupps und die Suppenküchen aufgenommen hat. Selbstverständlich wird der Verwaltungsrat nicht zahlen. Aber dass er zu einem solchen Zeitpunkt überhaupt dazu aufgefordert wird …«
Nein, dachte Stephen, er würde nicht hierbleiben. In Limerick hatte er sinnvolle Arbeit geleistet, aber was er tun konnte, war getan. Andere würden die Arbeit erfolgreich fortsetzen. Er selber würde nach Dublin zurückkehren. Ja, er konnte er es nicht mehr erwarten. Aber bevor er abreisen konnte, musste er noch ein paar Stunden totschlagen, und so beschloss er, durch den Ort zu gehen, so deprimierend das auch sein mochte. Auf den ersten Metern ertappte er sich bei dem Gedanken, was wohl aus den Maddens geworden war.
Sie sah ihn nicht kommen. Sie stand vor der Hütte, starrte in den grauen leeren Himmel und spürte nur Leere in ihrem Herzen. Erst als er vor ihr stand, gewahrte Maureen, dass er zu ihr sprach. Er fragte nach ihrer Schwester, und nach Daniel.
»Sie ist fort, Sir, aber ich weiß nicht, wo sie ist. Ich weiß gar nichts«, antwortete sie stumpfsinnig.
»Und der kleine Daniel?«
»Er ist gestorben, Sir. Gestern.«
»Das tut mir leid. Mein aufrichtiges Beileid.« Eine Floskel. Sie neigte in kraftloser Dankbarkeit den Kopf, blickte in das Gesicht, das sie so viele Male in Gedanken gesehen hatte, und starrte wieder in den Himmel. Ausdruckslos. »Was werden Sie jetzt tun?«, fragte er.
»Ich? Tun?« Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht. Was gab es jetzt noch zu tun? War das noch wichtig? Es war nicht wichtig.
»Wollen Sie hierbleiben? Haben Sie einen Platz, wo Sie hin können?«
»Ich habe nichts
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