Die Rebellen von Irland
mehr«, sagte sie wie benommen. »Ich habe alles verloren. Mir ist nichts geblieben. Aber das ist gleich.«
Sie nahm nur verschwommen wahr, dass er schwieg, dass er überlegte, zögerte.
»Unter diesen Umständen können Sie nicht hierbleiben«, sagte er schließlich. »Sie sollten besser mit mir kommen.«
»Ich?« Sie runzelte die Stirn, begriff nicht. »Wohin?« Wollte er sie ins Arbeitshaus bringen?
»Nach Dublin«, sagte er.
KÖNIGIN VIKTORIA
* 1848 *
Nur wenige Leute hätten bestritten, dass, wenn man die vielen Vorzüge Dublins aufzählen wollte, die Kanäle auf keinen Fall fehlen durften. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts gebaut, umschlossen sie heute den georgianischen Stadtkern wie zwei Arme. Der Royal Canal führte von den Docks hinter dem Zollamt nach Norden, um Mountjoy herum und oberhalb des Phoenix Parc nach Westen, dann aufs Land hinaus und tief in die Midlands hinein, wo er sich nach achtzig Meilen mit dem ausgedehnten Flusssystem des Shannon vereinte, sodass man mit Booten Güter von einer Seite Irlands auf die andere transportieren konnte. Südlich des Liffey verlief der Grand Canal. Er nahm an den Docks von Ringsend seinen Anfang und floss trotz seines Namens in einer weiten, kaum merklichen Biegung gemächlich zwischen grasbewachsenen Ufern und knorrigen Weiden dahin, bis er zwei Meilen westlich von St. Stephen’s Green wie ein Mann, der eine erquickende Ruhepause genossen hat, ein forscheres Tempo anschlug und in schnurgerader Linie die fruchtbare Liffey-Ebene in Richtung Westen durchquerte. An seinen Ufern hangelte sich von Holzschleuse zu Holzschleuse ein lauschiger Treidelpfad.
Dort, am Ufer des Grand Canal, lebte in einem schmucken, aber geräumigen Backsteinhaus die Familie Tidy. Samuel Tidy und seine Frau waren seit nunmehr fünfzehn Jahren verheiratet. Sie hatten fünf Kinder, von denen das jüngste noch im Säuglingsalter war. Sie waren fleißig und genossen einen bescheidenen Wohlstand. In ihrem Haus herrschte, wie man es bei Quäkern erwarten konnte, eine Atmosphäre unbeschwerter Ruhe, die ebenso erholsam wie wohltuend war.
Das fand zumindest Maureen Madden.
Als Stephen Smith im Dezember 1847 zu den Tidys gekommen war und ihnen mitgeteilt hatte, dass er für eine Frau aus Clare eine Anstellung suche, hatte im Haus noch eine Schlafkammer leer gestanden. »Ich hatte eigentlich die Absicht, Lord Mountwalsh fragen«, hatte er gesagt, »da er in seinen Häusern in Dublin und in Wexford viel Personal beschäftigt. Denn bei mir kann sie natürlich nicht wohnen. Aber dann habe ich mir gedacht, ich könnte auch Sie fragen. Fürs Erste habe ich ihr ganz in der Nähe ein Zimmer gemietet.« Nach einem langen Gespräch unter Eheleuten waren Samuel und seine Frau darin übereingekommen, dass Maureen noch ein paar Wochen in ihrem jetzigen Quartier bleiben sollte. In zahlreichen Fällen hatten Menschen, die aus Hungergebieten nach Dublin kamen, ansteckende Krankheiten mitgebracht. »Wir müssen zuallererst an die Gesundheit unserer Kinder denken«, erklärte der Quäker, was verständlich war. Aber danach seien sie bereit, Maureen aufzunehmen. »Sie kann mir mit den Kindern helfen«, sagte Mrs Tidy. »Ich bin mir sicher, dass es hier viel für sie zu tun gibt.« Zusätzlich zu Kost und Logis sollte sie ein bescheidenes Gehalt bekommen.
Für Maureen kam diese Veränderung ihrer Lebensumstände so unerwartet, dass sie sich wochenlang wie in einem Traum fühlte. Die Quäker-Familie führte ein einfaches Leben. Die Eltern aßen zusammen mit ihren Kindern, und sie beschlossen, Maureen wie eine Art Gouvernante zu behandeln. Tatsächlich stellte sie bald unter Beweis, dass sie den jüngeren Kindern das Lesen und Schreiben beibringen konnte, und vieles andere mehr. »Sie hat eine unglaubliche Disziplin«, sagte Mrs Tidy beifällig zu ihrem Mann. »Sie ist ruhig und reinlich. Ich bin wirklich sehr froh, dass wir sie genommen haben.« Der Winter verhinderte zwar, dass Maureen ihre chronische Blässe verlor, doch bis zum Frühjahr hatte sie so viel zugenommen, dass sie sich wieder ihrem körperlichen Normalzustand näherte. Sie sah nicht mehr ausgezehrt aus, allerdings war ihre Stimmung nach wie vor etwas gedämpft.
Anfang Juni mietete Tidy für zehn Tage ein Haus am Meer. Als sie aus diesen Familienferien zurückkehrten, hatte Maureen wieder etwas Farbe und sah insgesamt gesünder aus. »Ich bin so froh, dass es mit ihr bergauf geht«, sagte Mrs Tidy. »Ich fange an, sie richtig gernzuhaben.«
In
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