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Die Rebellen von Irland

Die Rebellen von Irland

Titel: Die Rebellen von Irland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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organisiert hatten und in der Nähe der neuen Brücke verteilten. Sie ließ Daniel zu Hause zurück und rannte so schnell sie konnte zur Brücke. Sie kehrte mit fünf Pfund Korn zurück. Davon konnten sie über eine Woche lang leben.
    Die Weigerung des Arbeitshauses, arbeitsfähige Männer mit Nahrung zu versorgen, hatte zweierlei Folgen. Die Männer zogen los und plünderten Getreidetransporte. Aber mit der Zeit konnte man sehen, dass viele in eine Art Apathie verfielen. Je weiter der Oktober fortschritt, desto kälter wurde es, und Maureen hatte den Eindruck, dass die Nachbarn um sie herum mit jedem Tag etwas magerer und schwächer aussahen. Und irgendwann, als sie ihre eigenen Arme betrachtete und gewahr wurde, wie dünn sie waren, begriff sie, dass die anderen denselben Eindruck von ihr haben mussten.
    Mitte Oktober wurde Daniel krank. Er hatte sich den Magen verdorben und musste zwei Tage lang mit Durchfall das Bett hüten. Sie achtete darauf, dass er viel Flüssigkeit zu sich nahm und etwas feste Nahrung in den Magen bekam. Er erholte sich wieder, und sie dankte Gott, dass er eine so kräftige Konstitution hatte. Aber er blieb blass und war viel schwächer als zuvor. Sie fragte sich, was sie tun konnte, damit seine Wangen wieder etwas Farbe bekamen.
    Eine freundliche Nachbarin sagte ihr, was sie zu tun hatte. Beim ersten Mal fiel es ihr am schwersten. Sie wählte die Stelle sorgfältig aus, und das war auch nötig, denn die Bauern ließen ihre Felder und Weiden nicht mehr aus den Augen. Bei Einbruch der Dunkelheit machte sie sich auf den Weg, damit sie wenigstens noch etwas Licht hatte. Neben einer Steinmauer standen drei Kühe. Sie ließ sich Zeit und kroch am Boden entlang wie eine Schlange. Die Kühe glotzten sie an, als sie bei ihnen ankam. Sie wartete, bis sie sich an ihre Anwesenheit gewöhnt hatten, dann machte sie sich ganz behutsam ans Werk. Sie hatte ein kleines scharfes Messer und eine Holzschale mitgebracht.
    Man musste nur eine geeignete Stelle am Bein finden und einen kleinen Schnitt anbringen. Wenn man es richtig machte, spürte die Kuh kaum etwas. Und dann musste man das heraustropfende Blut mit der Schale auffangen, so wie ein Arzt, der einen Patienten zur Ader ließ.
    Sie hielt den Atem an, betastete das Bein, betete, dass die Kuh sich nicht plötzlich bewegte, und machte einen kurzen Schnitt ins Fleisch. Das Tier zuckte, aber nur ganz leicht. Sie hielt die kleine Schale an das Bein. Sie wollte nicht mehr als ein paar Tropfen. Die Kuh sollte nicht zu stark bluten, und mit etwas Glück würde der Bauer gar nicht merken, was geschehen war. Als sie genug hatte, legte sie ein Tuch über die Schale und verknotete es, wischte das Kuhbein sauber und kroch zurück.
    Wieder in der Hütte, verdünnte sie das Blut mit Wasser, vermischte das Ganze mit Grütze und überredete Daniel mit einiger Mühe, es hinunterzuwürgen. »Das wird dir gut tun, auch wenn es nicht schmeckt.«
    Ein paar Tage später tat sie das Gleiche noch einmal. Aber diesmal misslang ihr der Schnitt, und das Tier blutete viel zu stark. Am letzten Oktobertag, am schaurigen Abend von Samhain, ging sie ein drittes Mal hinaus auf die Weide. Doch als sie den Pfad neben der Mauer entlangging, erblickte sie den Bauern, der, ein altes Gewehr in der Hand, am Rand der Weide wachte. Er musterte sie argwöhnisch. Sie entbot ihm einen höflichen Abendgruß und ging weiter. Sie hatte Daniel etwas Gutes getan, davon war sie überzeugt. Aber war es genug?
    Der November war trostlos. Nasskalte Witterung stellte sich ein. Und es gelang ihr nicht mehr, genug zu essen zu beschaffen, sosehr sie sich auch bemühte. Von dem Geld, das Nuala ihr geschenkt hatte, waren noch ein paar Shilling übrig, und sie versuchte, auf dem Markt etwas zu kaufen. Die Menge vor dem Armenhaus wuchs, und einmal hörte sie deutlich, wie ein Armenfürsorger zu einem Kollegen sagte: »Was sollen wir nur tun, wenn wir kein Geld mehr haben?«
    Am Ende der dritten Woche war ihr klar: Ennis stand vor dem Kollaps. Alles ging merkwürdig leise vonstatten. Es wurde nicht gesprochen. Kein plötzlicher Aufruhr, keine Klagen, keine Schreie. Nur kalte, dumpfige Stille, während die Welt langsam in Lethargie versank, als sei das Leben selbst an den schlammigen Straßen geschrumpft und in Kälte erstarrt. Sie nahm Daniel nun nicht mehr mit, wenn sie in die Stadt ging, weil sie ihm den Anblick ersparen wollte. Überall am Wegrand sah man kranke und sterbende Menschen, manchmal ganze Familien.

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