Die Rebellin
zu hören.
Scheinbar ziellos schlenderte Emily über den Platz, doch ihre Augen streiften forschend umher. Da entdeckte sie, wonach sie suchte, ohne es sich einzugestehen. Ein wenig abseits von den anderen Arbeitern, auf einem Stapel Eisenträger, die unweit des Transepts zur Montage bereitlagen, saß Victor und aß seine Vesper. Emilys Herz begann zu klopfen. Sollte sie ihn ansprechen? Voller Scham erinnerte sie sich an ihre letzte Begegnung – sie war vor ihm davongerannt wie ein ängstliches Kind vor einem bösen Mann. Als er den Kopf in ihre Richtung wandte, trat sie hinter eine Ulme. Noch hatte er sie nicht entdeckt, noch konnte sie kehrtmachen. Unentschlossen nestelte sie an ihrem Kleid,das sie zu Ehren des Prinzgemahls und zur Freude ihrer Mutter am Morgen angezogen hatte, ein richtiges Höhere-Töchter-Kleid, das mit dem Pelzbesatz am Kragen ihr jetzt in der Mittagssonne viel zu warm war. Wenn sie in diesem Kleid vor Victor erschien, würde er sich in seiner Meinung über sie nur bestätigt fühlen. Außerdem, sie war eine verlobte Frau … Sie gab sich einen Ruck und ging davon.
Unter dem Vorwand, Zeichnungen von der Entstehung des Pavillons anzufertigen, besuchte Emily in der folgenden Woche täglich die Baustelle, und auch in der Woche darauf fuhr sie jeden Morgen mit dem Pferdeomnibus in den Hyde Park. Sie hatte Angst, Victor wiederzusehen, Angst, in seine Augen zu schauen, Angst seine Stimme zu hören – und doch musste sie wissen, was er hier tat. Schon bald fand sie heraus, dass er auf einem der kleinen Verglasungswagen arbeitete, die ihr Vater erfunden hatte, hoch oben im Dachgestühl des Rohbaus, und dass er bereits nach wenigen Tagen vom Handlanger zum Arbeiter befördert worden war. Mit seinen Kollegen schien er wenig Kontakt zu haben. Sein Pausenbrot aß er jedenfalls immer allein, und immer an derselben Stelle, auf dem Stapel Eisenträger, auf dem sie ihn am Tag seiner Ankunft entdeckt hatte.
Eines Tages, an einem Sonnabend, beschloss sie, ihm zuvorzukommen – Pythia hatte es so entschieden. Fünf Minuten bevor die Sirene den Beginn der Mittagspause verkündete, hockte sie sich mit ihrem Zeichenblock auf den Stapel Eisenträger, direkt neben einen Busch, der sie vor seinem Blick abschirmen würde, wenn er von der Baustelle aus den Platz überquerte. Auf diese Weise musste er regelrecht über sie stolpern.
Doch an diesem Tag erschien Victor nicht an dem gewohnten Ort. Umso größer war Emilys Überraschung, als er am Abend unvermutet an der Omnibushaltestelle stand, am unteren Ende der Sloane Street, von wo aus sie immer nach Hause fuhr. Hatte auch er sie beobachtet? Er schien rein zufällig da zu sein, lehnte an einem Laternenpfosten und aß sein Abendbrot, ohne nachjemandem Ausschau zu halten oder sich um die Leute um ihn herum zu kümmern, die auf den Bus warteten. Aber konnte das wirklich Zufall sein? Die Haltestelle war mindestens tausend Schritt von der Baustelle im Hyde Park entfernt. Ihr Bedürfnis, sich ihm zu nähern, war auf einmal so stark, dass sie ihm nicht nachgeben durfte. Es wäre ihr irgendwie falsch vorgekommen, wie Verrat an ihrem Verlobten, der sich immer so korrekt verhielt, dass sie manchmal darüber verzweifelte.
Da trafen sich ihre Blicke, und ohne weiter nachzudenken, ging sie auf Victor zu.
»Was willst du von mir?«, fragte er schroff, ohne einen Gruß. Emily fühlte sich überrumpelt. Das war genau die Frage, die sie eigentlich ihm hatte stellen wollen! Um sich ihre Verunsicherung nicht anmerken zu lassen, erwiderte sie: »Ich habe neulich gesehen, wie du mit meinem Vater gesprochen hast. Hat er dich erkannt?«
»Ich glaube nicht«, sagte Victor. »Dein Vater ist ein viel zu bedeutender Mann, um auf das Gesicht seiner Arbeiter zu achten.« Emily lachte. »Mein Vater ist weniger bedeutend als kurzsichtig. Im Ernst, er sieht so schlecht wie ein Maulwurf. Manchmal glaube ich, dass er mich nur an der Stimme erkennt.«
»So? Nun ja, wenn du meinst.«
Victor zog ein Stück Papier aus der Tasche, um seine Vesper darin einzuwickeln.
»Steckrüben?«, rief sie, als sie sah, was er aß. »Igitt!«
»Meine Lieblingsspeise«, erwiderte er. »Wahrscheinlich wegen meiner Mutter. Sie war eine furchtbar schlechte Kuchenbäckerin.«
Emily schlug die Augen nieder. Warum redete sie immer nur so dummes Zeug, kaum dass er in der Nähe war? Während ihr das Blut ins Gesicht strömte, spürte sie seine verächtlichen Blicke auf sich. Das Gefühl war so unerträglich, dass sie
Weitere Kostenlose Bücher