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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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die Reihe kam.
    »Ausweis.«
    Ein Buchhalter mit grüner Stirnblende und schwarzen Manschettenschonern streckte die Hand nach ihm aus, ohne von seinem Pult aufzuschauen. Fordernd bewegte sich sein Zeigefinger. Victor reichte ihm sein Arbeitsheft.
    »Hier sind die Papiere von meiner letzten Stelle. Unterschrieben vom Meister.«
    »Jeremy Finch«, murmelte der Mann unter seiner Mütze. »Drucker in der Drury Lane. Kein besonders gutes Zeugnis.« Er gab Victor das Heft zurück. »Das reicht nicht. Ich brauche Ihren Ausweis.«
    »Meinen Ausweis? Wofür?«
    »Sicherheitsgründe. Sonst könnte ja jeder entsprungene Sträfling kommen!«
    Victor biss sich auf die Lippe. In seinem Ausweis war immer noch seine Haft im Coldbath Fields Gefängnis vermerkt. Während er nach einer Ausrede suchte, kam ein Maurerlehrling in die Baracke, ein blonder Junge mit Pickeln, der ungefähr so alt war wie Toby. Mit beiden Armen schleppte er einen Korb vor sich her, in dem Bierflaschen aneinander schlugen.
    »Auf das Wohl des Prinzgemahls!«
    Überrascht blickte der Buchhalter auf. Erst jetzt, als er sich eine Flasche nahm, sah Victor sein Gesicht. Es war so blass, als hätte noch nie ein Sonnenstrahl es berührt.
    »Hier, mein Ausweis«, sagte Victor rasch und hielt ihm kurz das Papier vor die Nase.
    Der Buchhalter sah gar nicht hin. »In Ordnung«, brummte er, ohne die Augen von seiner Flasche abzuwenden. Während er einen Schluck trank, schob er ein Formular über das Pult. »Können Sie schreiben?«
    Victor zögerte keine Sekunde. Der Buchhalter wischte sich den Schaum von den Lippen und stempelte das Formular ab.
    »Sie können sofort anfangen.«
    Er schnippte mit den Fingern, und ein breitschultriger, kahlköpfiger Mann mit grauem Bart und Pfeife im Mund kam herbei, um Victor zu seinem Arbeitsplatz zu bringen. Ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, nannte er seinen Namen – »Harry Plummer, Vorarbeiter« – und streckte ihm die Hand entgegen. Als Victor den Druck der ledrigen, schweren Hand spürte, beschlich ihn eine Frage, die schon seit seiner Ankunft auf der Baustelle in ihm lauerte. Was wollte er eigentlich hier? Es war nur eine dumpfe Wut, die ihn hergeführt hatte, ein vages, unbestimmtes Bedürfnis, Gerechtigkeit herzustellen, in irgendeiner Weise das Verbrechen zu sühnen, das Joseph Paxton an Toby begangen hatte.
    »Schon mal auf einem Bau gearbeitet?«, fragte Plummer, als sie ins Freie traten.
    »Vor ein paar Jahren, in einer Ziegelei.«
    »Immerhin. Besser als nichts.«
    Während sie über die Baustelle gingen, schaute Victor sich um. Die ungeheure Größe des Platzes, die gigantischen Ausmaße des Rohbaus, der sich wie ein Koloss aus Glas und Stahl vor ihm auftürmte, überwältigten ihn. Eine Hundertschaft von Arbeitern und mehrere Dutzend Pferdegespanne hievten gerade mit Hilfe von vier Kränen ein Eisenteil in den Himmel, das größer war als ein ganzes Haus. Plötzlich fühlte Victor sich unendlich klein. So ähnlich musste David sich gefühlt haben, als er Goliath entgegengetreten war.
    Vor einem Baugerüst blieb Plummer stehen und zeigte nach oben. »Bist du schwindelfrei?«
    Victor schaute in die Höhe und schluckte. Das Gerüst erhob sich vor einer bereits verglasten Gebäudewand und schien bis in den Himmel hinaufzureichen. Für eine Sekunde war es, als würde die ganze Front sich vorneigen, um auf ihn herabzustürzen. Statt einer Antwort nickte er nur mit dem Kopf und folgte Plummer auf die Leiter.
    Eins, zwei, drei …
Um sich abzulenken, zählte Victor die Sprossen, während er seinen Blick fest auf die graue Kordhose des Vorarbeiters über ihm heftete. Es war nicht anders als früher, wenn er als Junge auf einen Baum geklettert war – es kam nur darauf an, dass man nicht nach unten sah. Z
weiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig …
Er spürte, wie seine Hände von Sprosse zu Sprosse feuchter wurden, doch er traute sich nicht, sie abzuwischen. Plummer stieg so rasch die Leiter hinauf, dass Victor Mühe hatte, ihm zu folgen, und er wollte ihn hier oben auf keinen Fall verlieren.
Fünfundachtzig, sechsundachtzig, siebenundachtzig …
Ein leichter Wind kam auf, und irgendwo begann es zu rauschen. Victor spähte zur Seite und sah direkt in die Krone einer Ulme, die sich mit ihren braunen Blättern wieein zerzauster Haarschopf vor dem Himmel abhob.
Einhundertzehn, einhundertelf, einhundertzwölf …
Ein Laubblatt schwebte an Victors Gesicht vorbei. Unwillkürlich schaute er ihm hinterher, wie es in den

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