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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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Abgrund trudelte. Für einen Moment verspürte er den fürchterlichen Drang, die Leiter loszulassen, und musste einmal kurz die Augen schließen, bevor er weiterklettern konnte.
Zweihundertsiebenunddreißig, zweihundertachtunddreißig, zweihundertneununddreißig …
    »So, da wären wir.«
    Nach zweihundertdreiundfünfzig Sprossen erreichten sie eine Plattform auf der Höhe des Daches. Als Victor den Bretterboden betrat, verschlug ihm der Anblick die Sprache. Ganz London lag zu seinen Füßen – ein riesiges, graues Häusermeer, so weit das Auge reichte. Tief atmete er die Luft ein, die hier oben viel klarer und frischer schmeckte als unten am Boden. Vorsichtig beugte er sich über die Bretterbrüstung und schaute auf die Baustelle hinab. So klein wie Ameisen in ihrem Haufen wuselten die Arbeiter hin und her, die Pferde waren kaum größer als Mäuse, und selbst das haushohe Eisenteil, das am anderen Ende des Platzes zwischen Himmel und Erde schwebte, wirkte von hier aus nur noch wie ein Spielzeug.
    Victor stemmte die Fäuste in die Hüfte und ließ sich den Wind ins Gesicht wehen. Alle Angst war plötzlich verschwunden, er spürte, wie wieder Kraft und Selbstvertrauen in seine Adern strömten. Ja, David hatte auch nur eine Schleuder besessen, und trotzdem hatte er Goliath besiegt.
    »Keine schlechte Aussicht, wie?«, sagte Plummer. »Noch besser als von St. Paul’s. Aber wir sind hier nicht zum Vergnügen. An die Arbeit!«
    Als Victor sich umdrehte, glaubte er für einen Augenblick, er wäre in eine Fabrik geraten. In dem Dachgestühl waren Dutzende von Arbeitern damit beschäftigt, Glasplatten zu verlegen. Das taten sie, ohne einen Fuß auf das Dach zu setzen, von kleinen Wägelchen aus, die zwischen den Stahlstreben hin- und herrollten.Auf jedem der Wagen saßen vier Männer, die das Rahmenwerk nagelten und die Scheiben einfügten, während Hilfsarbeiter sie über Leitern mit Nachschub versorgten. »Eine Mannschaft besteht aus zwei Glasern und zwei Handlangern«, erklärte Plummer. »Sie haben auf dem Wagen alles, was sie brauchen. Werkzeug, Glas, Holzlatten, Kitt. Zusammen schaffen sie im Schnitt tausendfünfhundert Quadratfuß pro Woche.«
    »Was? Nur vier Leute?«
    »Ja, sogar im Winter. Wenn es kalt wird oder regnet, werden die Wagen überdacht. So können wir bei jedem Wetter arbeiten.«
    Voller Bewunderung sah Victor zu, wie unglaublich schnell die Glaser vorankamen. Jeder Handgriff saß, die Männer arbeiteten einander so sicher zu, als wären sie Teile einer Maschine.
    »Was ist meine Aufgabe?«, fragte er.
    »Kommt darauf an, wie du dich anstellst«, sagte Plummer. »Los, probieren wir’s aus.«
    Sie setzen sich in einen leeren Verglasungswagen, und Plummer machte vor, wie es ging. Schon nach wenigen Minuten war Victor imstande, die erste Glasscheibe einzufügen, und zusammen hatten sie nach einer halben Stunde mehrere Quadratfuß verglast. Er musste selber staunen, wie leicht die Arbeit ihm von der Hand ging. Jeder Vorgang war so einfach, dass er auch von ungelernten Kräften ausgeübt werden konnte. Victor hatte noch keine Druckpresse gesehen, die so perfekt funktionierte wie dieses System. Ein Genie musste es sich ausgedacht haben, zur Handhabung durch Idioten.
    »Wer hat das erfunden?«, fragte er.
    »Ich!«
    Die Stimme, die Victor antwortete, klang ihm so fremd und vertraut in den Ohren wie die Stimme Gottvaters. Joseph Paxton stand über ihm und schaute auf ihn herab.
    »Wie lange bist du schon bei uns?«
    Plummer stieß ihn in die Rippen. Victor nahm die Mütze ab und kletterte aus dem Wagen.
    »Ich habe heute Morgen angefangen, Sir.«
    Zögernd, fast gegen seinen Willen hob Victor den Blick. Er wollte diesem Mann nicht ins Gesicht schauen, doch er konnte nicht anders. Paxtons graue Augen ruhten auf ihm. Er sah ihn aufmerksam, ja freundlich an, doch offenbar ohne ihn zu erkennen. Verwundert stellte Victor fest, wie klein er war. Er hatte ihn viel größer in Erinnerung gehabt.
    »Wenn du dich weiter so tüchtig anstellst«, sagte Paxton, »bist du hier richtig. Jeder, der hart arbeitet, bekommt bei mir seine Chance.« Er tippte sich an die Schläfe und wandte sich ab. »Weitermachen!«

4
     
    Es war Mittagspause im Hyde Park. Für eine halbe Stunde ruhte die Arbeit, und auf der Baustelle war es so still wie an einem Sonntag. Nur die Stimmen der Männer, die irgendwo im warmen Sonnenschein des Altweibersommers ihr Brot aßen oder ein letztes Mal auf den Prinzgemahl anstießen, waren hier und da

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