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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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ihn ansehen musste. Ja, er hatte die Augen tatsächlich auf sie gerichtet, doch es war keine Verachtung, die daraus sprach. Es war etwas anderes,eine fast provozierende Selbstsicherheit, nein, Schamlosigkeit, die sich kein Mann sonst ihr gegenüber herausnahm, obwohl er gleichzeitig ganz in sich versunken schien, als würde er träumen. Was konnten das für Träume sein? Victor, dachte sie plötzlich, hätte sie bestimmt nicht zurückgewiesen, wie Cole es im
Claridge’s
getan hatte. Der Gedanke stieg ihr in den Kopf wie ein Schluck Champagner, und das Verlangen, Victor statt ihren Verlobten zu küssen, war so heftig, dass sie davor erschrak, als hätte sie in ihrem Bett eine Schlange entdeckt.
    »Was tust du hier?«, fragte sie. »Das hier ist eine Baustelle, keine Druckerei. Mr. Finch wird dich sicher sehr vermissen.«
    »Das glaube ich nicht. Ich habe gekündigt.«
    »Aber weshalb? Du magst deinen Beruf, du bist ein wunderbarer Buchdrucker, der beste, den ich kenne.« Sie verstummte. Erst jetzt merkte sie, dass die Dämmerung bereits eingesetzt hatte. Das vertraute und doch jedes Mal wieder befremdliche Gefühl des herabsinkenden Abends überkam sie, und so leicht, als würde es gar nicht geschehen, streifte sie Victors Hand. »Bist du vielleicht … wegen mir hier?«
    »Wegen dir?«, fragte er und zog seine Hand zurück. »Wie kommst du darauf?«
    Emily wäre am liebsten im Boden versunken. »Ich meine«, sagte sie hastig, »vielleicht wolltest du ja auf mein Angebot zurückkommen, dass ich mit meinem Vater spreche, jetzt, nachdem du bei Mr. Finch gekündigt hast. Ich kann mir gut vorstellen, dass du es nicht mehr dort ausgehalten hast. Der Mann war ja wohl ein Trinker?« Sie hoffte, dass Victor etwas erwiderte, um sie aus ihrer Peinlichkeit zu befreien, doch er machte keinerlei Anstalten, ihr diesen Gefallen zu tun. »Wenn du willst«, fuhr sie darum fort, »kann ich immer noch mit ihm reden, mit meinem Vater, meine ich natürlich. Ich bin sicher, er wird sich freuen und alles tun, worum ich ihn bitte, um dir zu helfen, damit du …«
    Die Worte gingen ihr so unvermittelt aus, wie sie ihr gekommen waren. Hilflos blickte sie Victor an.
    »Ich glaube«, sagte er nur, »du verstehst nicht, worum es geht. Ich will nichts von deinem Vater. Im Gegenteil.«
    »Was soll das heißen, im Gegenteil?«
    Victor zögerte. Dann sagte er: »Wenn du es genau wissen willst, ich bin nur aus einem einzigen Grund hier – um zu verhindern, dass dieser verdammte Bau fertig wird.«
    Emily musste trotz ihrer Verlegenheit laut lachen.
»Du
willst verhindern, dass der Bau fertig wird?«, platzte sie heraus. »Wie das denn? Vielleicht mit deiner Schleuder, so wie früher?« Als sie sein Gesicht sah, verging ihr das Lachen. »Das … das meinst du doch nicht im Ernst, oder?«
    »Dein Vater will sich hier ein Denkmal setzen«, erwiderte Victor, mit einer Miene wie aus Stein. »Aber ich werde dafür sorgen, dass daraus nichts wird.«
    Emily brauchte eine Weile, um zu begreifen. »Ach so«, sagte sie dann. »Du hast gehört, dass vielleicht ein paar Glaser streiken, und mit denen willst du dich zusammentun. Aber glaub ja nicht, dass das funktioniert. Es gibt in London jede Menge Arbeiter, haufenweise, die alle überglücklich wären, wenn sie hier anfangen könnten. Also, wenn du deshalb hergekommen bist, hast du dich verspekuliert.«
    Victor zuckte nur die Schultern. »Denk, was du willst. Wir werden ja sehen.«
    An der Haltestelle bildete sich unter den Wartenden eine Schlange. Vom oberen Ende der Sloane Street näherte sich im raschen Trab der Omnibus, er hatte den Cadogan Place schon hinter sich gelassen. Ein Mann mit steifem Hut und steifem Kragen trat beiseite, um Emily in der Schlange Platz zu machen. Doch sie blieb bei Victor stehen.
    »Hast du keine Angst, dass ich das alles meinem Vater erzähle? Wenn er von deinen Plänen weiß, wirft er dich auf der Stelle raus.«
    »Ich glaube nicht, dass du das tust.«
    »Was sollte mich daran hindern?«
    »Keine Ahnung, nur so ein Gefühl.«
    Emily ärgerte sich, dass sie ihm insgeheim Recht geben musste. Aber eher würde sie sich die Zunge abbeißen, als ihm das zu gestehen.
    »Warum willst du so etwas überhaupt tun?«, fragte sie ihn darum nur. »Du willst dich rächen, für früher, nicht wahr?«
    Er gab keine Antwort. Mit regloser Miene blickte er auf den heranfahrenden Bus. Nur die Narbe auf seiner Stirn zuckte.
    »Wenn es wegen früher ist«, sagte sie, »kann ich dich verstehen. Aber

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