Die Rebellin
Starken gegen das Schwache, woraus alles Gute und Schöne in der Natur und unter den Menschen entstand. Doch nie hätte sie geahnt, dass man diese Lehren auch so verstehen konnte, wie Victor es tat, so negativ, so zerstörerisch, so lebensfeindlich.
»Mein Vater«, sagte sie leise, »hatte auch nur Steckrüben zu essen, als er so alt war wie du.«
»Kann sein«, sagte Victor, »aber das ist schon lange her. Jetzt ist er ein Kuchenesser, einer von der übelsten Sorte, der einem kleinen Steckrübenesser aus der Drury Lane sein Stück Bratfisch weggenommen hat. Darum hasse ich ihn, bis in alle Ewigkeit.
Und darum werde ich alles tun, damit sein verfluchtes Gebäude niemals fertig wird. Und wenn ich selber dabei verrecke.«
Es war, als trüge er um sich einen Panzer, und sein Gesicht drückte eine abweisende, kalte Gefährlichkeit aus. Nur seine dunklen Augen blitzten wie zwei Messerklingen – genauso wie damals, als sie den Flaschengeist in ihm geweckt hatte. Als Emily diesen Hass sah, kam ihr eine vollkommen absurde Frage in den Sinn. Doch so absurd sie zu sein schien, sie musste sie stellen.
»Es hat Anschläge auf die Züge der Midland Railway gegeben. Hast du … hast du vielleicht damit zu tun?«
Victor erwiderte ihren Blick mit einem undurchdringlichen Lächeln. »Traust du mir das zu?«
5
Rohstoffe – Maschinen – Fabrikwaren – plastische Kunst.
Henry Cole nahm ein Lineal und zeichnete vier gleich große Kolumnen senkrecht unter jeden Begriff und trug sodann mit seiner akkuraten Handschrift in jede der vier Sektionen die Begriffe der einzelnen Unterklassen ein. Seit dem frühen Morgen schon saß er am Schreibtisch seines Büros und arbeitete an der Gliederung für den Katalog der Weltausstellung, die zugleich die Grundlage für die Raumaufteilung des Pavillons bei der großen Güterschau selbst sein würde. Eine ebenso faszinierende wie schwierige Aufgabe: Die Ordnung der Dinge musste einerseits strengsten wissenschaftlichen Gesetzen folgen, denn diese waren Ausdruck des göttlichen Willens, wie der Schöpfer selbst die Welt geordnet hatte. Andererseits war sie aber auch eine Frage von hoher politischer Brisanz, die jede Menge Sprengstoff in sich barg. Alle wichtigen Länder der Erde hatten inzwischen ihre Teilnahme zugesagt: Frankreich und Preußen ebenso wie Russland und Amerika. Doch welche Nation nahm welchen Rang imVergleich der Völker ein? In dieser heiklen Frage stand nur eines von vornherein fest: Alle übrigen Nationen mussten sich mit der Hälfte der vorhandenen Ausstellungsfläche begnügen. Die andere Hälfte des Pavillons war den Erzeugnissen Englands vorbehalten, die zusammen mit den unendlichen Schätzen der Kolonien den Löwenanteil der Güterschau ausmachen würden.
Die geistige Herausforderung tat Henry Cole gut, fast so gut wie die Atmosphäre seines Büros mit den schweren Mahagonimöbeln, den kostbaren Ölbildern und den flauschigen Teppichen. Ordnung in die Dinge zu bringen, beschwichtigte seine Nerven. Könnte er die Probleme seines eigenen Lebens doch genauso einfach lösen wie diese organisatorische Aufgabe, allein nach Kriterien vernünftiger Zweckmäßigkeit … Aber, ach, in seinem Leben gab es noch andere Kriterien, die er berücksichtigen musste. Seine Frau litt von Tag zu Tag mehr, ohne Erlösung zu finden – fast jeden Morgen war ihr Kopfkissen voll Blut. Seit Monaten bedeutete ihr Erdendasein nur noch Siechtum, nicht nur für sie selbst, auch für die Kinder. Um ihr Leid ein wenig zu lindern, hatte er beschlossen, von einer völlig neuartigen Therapie Gebrauch zu machen, obwohl der Versuch so viel Geld kostete wie die übliche Medizin für drei Monate und der Erfolg höchst ungewiss war. Er wollte mit Marian in einem Fesselballon aufsteigen, der Arzt versprach sich von der Höhenluft ein Nachlassen der quälenden Hustenanfälle. Am nächsten Tag sollte der erste Aufstieg erfolgen, in aller Herrgottsfrühe. Cole hoffte, dass die Fahrt nicht nur eine Therapie für ihren leidenden Körper sein würde, sondern auch für ihre arme Seele. Ein letztes wunderbares Erlebnis, bevor sie vielleicht für immer …
Es klopfte an der Tür. »Herein!«
Als Cole von seinem Schreibtisch aufblickte, stand Emily in der Tür.
»Um Gottes willen!«, sagte er und sprang auf. »Was tun Sie hier? Wir hatten doch ausgemacht, dass Sie nicht in mein Büro … Wenn man uns zusammen sieht!«
Noch während er die Tür hinter ihr zuzog, schlang sie die Arme um seinen Hals und bedeckte
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