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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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Gegenteil war der Fall. Aber das war nicht das Einzige, was Emily in letzter Zeit nicht verstand. Genauso unverständlich war ihr das Verhalten Coles im
Claridge’s
gewesen, nach seinem Triumph im Mansion House. Wie sehr hatte sie sich danach gesehnt, an diesem Abend seine Frau zu werden, im Namen der Natur, wenn sie es vor den Augen der Welt noch nicht sein durfte … Wie sehr hatte sie darauf gebrannt, endlich jenes Geheimnis zu erfahren, in dem alles Leben seinen Anfang nahm … Es war nicht dazu gekommen. Cole hatte sie geküsst, sie hatte begonnen, sich auszuziehen, doch dann hatte er plötzlich ihr Cape um sie gelegt und sich abgewandt. Warum? Aus Rücksicht auf sie? Aus Angst vor ihren Eltern? Der ganze Abend war ihr ein einziges Rätsel.
    »Werden Sie uns beim Eröffnungball die Ehre geben, Miss Paxton?«
    Emily blickte den Prinzgemahl verständnislos an.
    »Wir planen am Abend des ersten Mai eine große Soirée. Es wäre mir ein Vergnügen, Sie zum Tanz aufzufordern, falls Ihr Verlobter nichts dagegen hat. Ich nehme doch an, Sie sind bereits verlobt, nicht wahr?«
    Laute Rufe von der Baustelle ersparten Emily die Antwort.
    Der Prinzgemahl schaute sich irritiert um. »Haben Sie eine Ahnung, was das zu bedeuten hat?«
    »Sie haben den Männern Freibier spendiert, Königliche Hoheit«, erklärte Cole.
    »So? Tatsächlich? Ich kann mich gar nicht erinnern.«
    »Ich war so frei, in Ihrem Namen entsprechende Anweisung zu geben. Als Ausdruck Ihrer königlichen Großmut. Ich dachte, eine solche Geste könnte nicht schaden.«
    »Ausgezeichnete Idee. Nun, dann sollte ich mich wohl den Männern zeigen.«
    Zusammen mit ihrem Vater und ihrem Verlobten begleitete Emily den Prinzen zum Portal des Transepts, durch einen Wald von Stützen, Strebern und Pfeilern, die bis zu hundert Fuß inden frühmorgendlichen Herbsthimmel ragten, höher noch als Sibthorps Ulmen.
    »Herrlich«, sagte Albert. »Man kann jetzt schon das Raumgefühl ahnen, wie in einer Kathedrale. Fast müssten wir unseren Kritikern dankbar sein.«
    Draußen hatten sich Hunderte von Arbeitern versammelt, die ihre Mützen in die Luft warfen und den Prinzgemahl hochleben ließen. Alle hatten eine Flasche Bier in der Hand.
    »Was meinen Sie«, sagte Cole leise, als Albert winkend vor die Leute trat, »vielleicht sollten wir mit Wellington sprechen. Ein Regiment Soldaten auf der Baustelle würde den Männern Respekt einflößen.«
    »Ein Zeichen von Stärke ist immer gut«, sagte Paxton. »Ich werde den Feldmarschall um Unterstützung bitten. – Aber was ist mit dir, mein Kind? Was ziehst du für ein Gesicht?«
    Emily hörte ihren Vater kaum. Irritiert blickte sie auf das Eingangstor der Baustelle, wo kaum einen Steinwurf von ihr entfernt gerade ein junger Mann seine Mütze vom Kopf nahm und sich suchend umschaute.
    War er das wirklich? Nein, das konnte nicht sein! Emily trat ein paar Schritte vor, um besser zu sehen.
    Der Mann sprach einen Trupp Arbeiter an, die mit Hilfe eines Pferdegespanns einen Pfeiler aufrichteten. Nach einem kurzen Wortwechsel setzte er sich die Mütze wieder auf den Kopf und ging weiter auf die Bürobaracke zu.
    Als er den Kopf in ihre Richtung wandte und in die Morgensonne blinzelte, erkannte Emily, dass sie sich nicht geirrt hatte. Der Mann, der jetzt die Stufen zur Bürobaracke emporstieg, war niemand anderes als Victor.

3
     
    Wie ein geborstener Kristall funkelte der Rohbau mit seinen unregelmäßigen Zacken im Morgenglanz der Herbstsonne, während irgendwo in der Ferne Hochrufe ertönten. Victor fröstelte in seiner dünnen Jacke, als er an die Tür der Bürobaracke klopfte. Er hatte in der
Illustrated London News
gelesen, dass Joseph Paxton, der Mann, der Toby auf dem Gewissen hatte, im Hyde Park die größte Baustelle der Welt betrieb, um dort ein gigantisches Gebäude zu errichten, für die Weltausstellung im nächsten Jahr – dieselbe Veranstaltung, auf der Toby mit einer Bratfischbude hatte reich werden wollen.
    »Herein!«
    Victor nahm die Mütze ab und trat ein. Die Baracke war voller Menschen. Ein Dutzend Schreiber beugte sich über hölzerne Stehpulte, vor denen Arbeitsuchende jeden Alters Schlange standen. Victor spürte, wie seine Narbe juckte, und kratzte sich an der Stirn. Ob man ihn mit seinen Papieren überhaupt einstellen würde? Auf der Baustelle, hatte es in der Zeitung geheißen, herrsche so großer Arbeitermangel, dass jeder Mann genommen werde. Er stellte sich ans Ende einer Schlange und wartete ab, bis er an

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