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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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seinen Platz und schaute auf die Uhr. »Meinen Sie, dass unsere Freundin noch kommt?«
    »Keine Ahnung.« Mr. Harper zuckte die Achseln. »Bisher war sie immer pünktlich.« Mit routiniertem Blick sah er die Postdurch, die während seiner Abwesenheit eingegangen war, nahm einige Briefe an sich und gab andere der Sekretärin zurück. »Allerdings, wenn sie bis jetzt noch nicht da war …«, murmelte er und warf den Umschlag, den der Arbeiter gebracht hatte, ungeöffnet in einen Papierkorb.
    »Nun, dann komme ich ein andermal wieder.«
    Cole wollte gerade seine Ausgabe des
Northern Star
wieder einstecken, da fiel sein Blick noch einmal auf die Titelillustration. Ein kleines Detail, dem er zuvor keine Beachtung geschenkt hatte, erregte seine Aufmerksamkeit. Einer der Männer, die die Leichen an Euston Station umstanden, hatte eine auffallende Narbe auf der Stirn.
    Plötzlich kam ihm ein Verdacht. »Ach bitte«, wandte er sich an den Redakteur, »schauen Sie doch einmal in den Umschlag, den Sie gerade weggeworfen haben.«
    »Wozu?« Mr. Harper schüttelte den Kopf. »Unaufgefordert eingereichte Beiträge werden grundsätzlich nicht gedruckt.«
    »Trotzdem. Der Brief könnte vielleicht von unserer Künstlerin sein. Theoretisch zumindest.«
    »Na gut, wenn Sie meinen.« Widerwillig fischte Mr. Harper den Umschlag aus dem Papierkorb. »Aber machen Sie sich keine falschen Hoffnungen. Den ganzen Tag kommen hier irgendwelche Spinner und Wichtigtuer vorbei, mit allen möglichen Artikeln, die wir abdrucken sollen, besonders seit die Weltausstellung begonnen hat. Aufrufe, Proteste, Pamphlete – sogar die Ankündigung von einem Attentat auf die Königin hatten wir schon, und mindestens ein Dutzend Bombendrohungen für den Kristallpalast. – Oh, tatsächlich!«, unterbrach er sich. »Sie hatten Recht.«
    Er zog aus dem Umschlag eine Zeichnung hervor. Sie zeigte einen verängstigten Jungen, den ein brutal wirkender Kaminkehrer in einen finsteren Schornstein hinaufjagte.
    Cole spürte, wie er blass wurde.
    »Was ist mit Ihnen?«, fragte Mr. Harper. »Fühlen Sie sich nicht wohl?«
    Cole brachte kein Wort über die Lippen. Beim Anblick der Zeichnung hatte ihn eine so jähe Eifersucht gepackt, dass es ihm die Kehle zuschnürte. Deutlicher, als stünde sie vor ihm, sah er Emily vor sich, in den Armen des Arbeiters, der vor einer Minute hier gewesen war. Und plötzlich wusste Henry Cole, dass er Emily Paxton immer noch liebte.
    »Ich … ich brauche den Namen der Zeichnerin«, brachte er schließlich hervor.
    »Aber Sie wissen doch, dass das nicht geht«, erwiderte der Redakteur verärgert.
    »Den Namen und die Adresse«, wiederholte Cole. »Oder ich hetze Ihnen die Polizei auf den Hals.«

15
     
    So laut wie eine Sirene schrillte die Fabrikglocke über den Hof, und in weniger als einer Minute kehrten die Arbeiterinnen, die dort eine Viertelstunde Pause gemacht hatten, zurück zu ihren Plätzen.
    Seit sechs Tagen arbeitete Emily inzwischen in der Baumwollspinnerei und Weberei Hopkins, und heute würde sie ihren ersten Wochenlohn bekommen, zwölf Schilling und drei Pence. Sie konnte es kaum erwarten, ihr erstes selbst verdientes Geld in Empfang zu nehmen, denn jeder Schilling, den sie verdiente, brachte sie Amerika ein Stückchen näher. Doch als ihr Webstuhl, angetrieben von den unsichtbaren Kräften einer irgendwo im Untergrund verborgenen Dampfmaschine, sich wieder klappernd in Gang setzte, erschienen ihr die zwei Stunden bis Feierabend so unendlich lang wie der Einschussfaden vor ihr auf der Spindel, deren Bauch scheinbar niemals abnahm. Um sich die Zeit zu vertreiben, las sie die Paragrafen der Fabrikordnungdurch, die über ihrem Webstuhl auf einer großen Tafel angeschlagen war:
    1. Die Fabriktür wird zehn Minuten nach Arbeitsbeginn geschlossen, und danach wird bis zum Frühstück niemand mehr in das Gebäude gelassen. Wer während dieser Zeit abwesend ist, verwirkt drei Schilling Strafe. 2. Jede Arbeiterin, die während einer Zeit, da die Maschine in Bewegung ist, nicht anwesend ist, verwirkt für jede Stunde drei Schilling. Wer während der Arbeitszeit ohne Erlaubnis des Webereiinspektors den Saal verlässt, wird ebenfalls mit drei Schilling bestraft. 3. Arbeiterinnen, die keine Schere bei sich haben, verwirken für jeden Tag einen Schilling. 4. Alle Weberschiffchen, Bürsten, Ölkannen etc., die zerbrochen werden, müssen von den Arbeiterinnen bezahlt werden. 5. Keine Arbeiterin darf ohne Aufkündigung, die eine Woche vorher

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