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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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wurden.
    Emily hatte sich noch im Morgengrauen auf den Weg gemacht. Die Fabrik befand sich im Norden von London, in der Nähe von Phoenix Place. Durch das Fenster des Verwaltungsgebäudes, in dem die Einstellung erfolgte, konnte sie die rote Backsteinmauer des Coldbath Field Gefängnisses sehen, über der immer wieder zwei mächtige Mühlenflügel in den Himmel aufstiegen.
    »Wo hast du früher gearbeitet?«, fragte Annie.
    Emily wusste nicht, was sie erwidern sollte. Konnte man die Tätigkeiten, die sie für ihren Vater erledigt hatte, als Arbeit bezeichnen?
    »Lass mich raten«, sagte Annie. »Du warst Hausmädchen bei vornehmen Leuten. Hab ich Recht?«
    »Wie kommst du darauf?«
    »Schon wie du redest.« Sie spitzte die Lippen, um Emily nachzumachen. »›Wenn ich es dir versichere‹ – so redet sonst keiner, den ich kenne. Außerdem die Sachen, die du anhast. Ich wette, das Kleid hat dir deine letzte Herrschaft geschenkt. Und dann deine weißen Hände. Die sehen nicht nach Fabrikarbeit aus.«
    Emily fühlte sich ertappt – dasselbe hatte auch Victor gesagt. Er hatte an ihrem Verstand gezweifelt, als sie ihm erklärte, sie würde lieber in einer Fabrik arbeiten, statt Geld für ihre Zeichnungen zu nehmen. Der
Northern Star
bot ihr für eine Zeichnung so viel, wie er im Hafen an zwei Tagen verdiente! Richtig wütend war er deshalb geworden, und sie hatten sich fast gestritten, doch Emily hatte sich nicht von ihrer Meinung abbringen lassen. Sie konnte das Geld nicht nehmen; wenn sie es tat, hatte sie das Gefühl, auch sie würde mitverdienen am Tod der zwei Menschen, die in Euston Station ums Leben bekommen waren, genauso wie ihr Vater und die Aktionäre der Midland Railway von Tobys Tod profitiert hatten – beides hing miteinander zusammen. Das glaubte Victor zwar auch, aber ihre Weigerung, das Geld anzunehmen, hielt er trotzdem für Höhere-Töchter-Allüren, die sie sich nicht leisten konnten. Davon, hatte er gesagt, würde Toby auch nicht wieder lebendig.
    »Los, vorwärts, Mädchen«, rief der Webereiinspektor, der in seiner blauen Uniform vorn am Schalter auf seinen Fußballen wippte, um sich größer zu machen. »Aber immer hübsch der Reihe nach! Und schiebt die Ärmel hoch, damit man was von euch sehen kann!«
    Ein Ruck ging durch die Schlange.
    »Sie haben schon über dreißig genommen«, sagte Emily. »Ist das ein gutes Zeichen?«
    »Im Gegenteil«, sagte Annie. »Je mehr sie schon haben, destoschlechter für uns. Ich darf gar nicht daran denken, was wird, wenn …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, doch Emily verstand sie auch so.
    »Hast du keinen Vater für dein Kind?«
    Annie schüttelte den Kopf. »Der Mistkerl hatte versprochen, bei mir zu bleiben. Aber als ich am Morgen aufwachte, war er schon weg. Er hat mir sogar noch den Zipfel Wurst weggefressen, den ich in der Schublade versteckt hatte.«
    »Weißt du was?«, sagte Emily. »Wenn sie uns beide nehmen, fragen wir, ob wir an einer Maschine arbeiten dürfen. Möchtest du?«
    »Ja, das wäre schön!« Annie konnte fast schon wieder lächeln.
    »Drück die Daumen, dass wir es schaffen. Es sind noch so viele vor uns dran.«
    Emily zählte die Reihe der wartenden Frauen durch, doch als sie bei zehn ankam, gab sie es auf, um nicht die Hoffnung zu verlieren. Nur schleppend ging es voran, und wenn Annie Recht hatte, schrumpften mit jeder Frau, die eingestellt wurde, ihre eigenen Chancen. Das war ein Gefühl, das Emily nicht kannte, und es fiel ihr schwer, sich daran zu gewöhnen. Gehörte sie von jetzt an für immer zu den Menschen, die sich hinten anstellen mussten?
    Wenn sie das Gedränge sah, mit denen sich die Frauen gegenseitig die Plätze in der Schlange streitig machten, musste sie Victor innerlich Recht geben. Er hatte wirklich allen Grund, an ihrem Verstand zu zweifeln. Am zwanzigsten Oktober fuhr ein Schiff nach New York, ein Passagierdampfer der Cunard-Reederei, und Victor hatte vielleicht sogar die Möglichkeit, auf dem Schiff anzuheuern – es wurden noch Heizer gesucht. Doch das Geld, das Emily für ihre Ohrringe bekommen hatte, reichte nicht mal für eine Koje im Unterdeck, und leben mussten sie bis zur Abfahrt schließlich auch noch von irgendetwas. Aber sollte sie darum Geld nehmen, an dem das Blut unschuldiger Menschen klebte?
    »So, ihr drei noch«, sagte der Inspektor. »Die anderen können nach Hause gehen.«
    Annie durfte als Letzte an den Schalter treten, wo ein Schreiber die Namen der Frauen, die eingestellt wurden, in eine

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