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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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dunklen Hinterhöfen, von stillenden Müttern, die mit Säuglingen an der Brust an ihren Webstühlen arbeiteten; von ausgehungerten Kindern, die wie Sklaven in Fabriken gehalten wurden und vor Erschöpfung sich kaum auf den Beinen halten konnten. Die Serie hatte bereits die Aufmerksamkeit der polizeilichen Sicherheitskräfte auf sich gezogen, die darin einen Fall von öffentlicher Unruhestiftung erblickten.
    Cole zog ein altes Exemplar des
Northern Star
aus der Tasche, um das Titelbild, das zwei Leichen und eine explodierte Lokomotive zeigte, mit der Illustration der neuesten Ausgabe zu vergleichen.
    »Ich nehme an, die Künstlerin ist dieselbe?«
    Der Redakteur lüftete sein Gesäß und winkte ihn zu sich heran.
    »Wie gesagt, den Namen kann ich Ihnen nicht nennen, die junge Lady will unbedingt anonym bleiben. Aber wenn Sie ein bisschen Zeit haben – sie kommt meistens kurz vor sechs, um ihre Bilder zu bringen.« Er legte einen Finger an die Lippen und zwinkerte Cole verschwörerisch zu. »Aber pssst – kein Wort, dass Sie den Tipp von mir haben.« Damit verschwand er durch eine Tür, die von dem Schalter in einen rückwärtigen Büroraum führte.
    Cole beschloss zu warten. In den zwei Wochen, die seit seiner Unterredung mit Joseph Paxton vergangen waren, hatte er sich zunächst um die geschäftlichen Dinge gekümmert und mit Mr. Cook ein Konzept für Pauschalreisen entwickelt, das eine völlig neuartige Form von Tourismus darstellte. Interessenten der Weltausstellung konnten ab sofort in allen englischen Großstädten eine komplette Rundumbetreuung buchen, die nicht nur die Reisebeförderung einschloss, sondern auch die Unterkunft und Verpflegung in der Hauptstadt sowie wahlweise einbis dreitätige Führungen durch den Kristallpalast. Ein solches Angebot zu entwickeln, das von den Niederlassungen Mr. Cooks ebenso vertrieben wurde wie von den lokalen Arbeitervereinen, war auch Paxtons Priorität gewesen, und Cole hatte alles darangesetzt, damit dieser bei seiner Rückkehr aus Paris zufrieden sein würde. Aber war das der einzige Grund, warum er die Erledigung seines zweiten Auftrags so lange vor sich hergeschoben hatte?
    Cole nahm Platz an einem Tisch, der in einer Ecke des Redaktionsbüros stand, und verbarg sich hinter einer Zeitung. Während die Zeiger der Wanduhr langsam auf sechs vorrückten, hielt er die Tür im Auge. Ab und zu kam jemand herein, um einen Artikel oder ein Inserat bei der Redaktionssekretärin abzugeben, die hinter ihrem Schreibtisch am Eingang thronte. Nervös trommelte Cole mit den Fingern auf dem Tisch. Was würde passieren, wenn die Tür aufging und Emily plötzlich vor ihmstand? Was sollte er ihr sagen, wenn sie ihn zur Rede stellte? Wie ihr etwas erklären, wofür es keine Erklärung gab? Sie hatte seine erbärmliche Wahrheit entdeckt, die ganze Armseligkeit seiner Existenz, die ihn zu der scheußlichsten Verfehlung verführt hatte, zu der ein Mensch sich nur verführen lassen konnte. Mag sein, dass auch andere an seiner Stelle so gehandelt hätten wie er, dass auch andere, die ohne einen goldenen Löffel im Mund geboren waren, die sich bietende Chance auf ein besseres Leben ergriffen hätten, koste es, was es wolle … Doch musste diese simple Folgerichtigkeit seines Verhaltens ihn in Emilys Augen nicht noch verachtenswerter machen? Die Notwendigkeit, sich vor ihr rechtfertigen zu müssen, würde die schlimmste Demütigung in der langen Kette von Demütigungen sein, mit denen er seinen Aufstieg hatte bezahlen müssen, und obwohl der Schmerz, sie für alle Zeit verloren zu haben, immer noch wie Essig in seiner Seele brannte, schämte er sich so sehr vor ihr, dass er sie in manchen Augenblicken regelrecht hasste. Weil er sich nicht verzeihen konnte, dass er sie so sehr enttäuscht hatte.
    Plötzlich ging die Tür auf. Cole schrak zusammen – doch nicht Emily kam herein, sondern ein junger Arbeiter in einer Kordjacke, der eine rötliche Narbe auf der Stirn hatte. Cole musterte irritiert sein Gesicht. Wo hatte er den Mann schon einmal gesehen? Doch der Fremde erwiderte seinen Blick, ohne zu reagieren – offenbar kannte er ihn nicht. Er schaute sich nur kurz um, dann reichte er der Sekretärin einen Umschlag.
    »Das soll ich hier abgeben«, sagte er, und ohne ein weiteres Wort verließ er das Büro.
    Fünf Minuten später kehrte Mr. Harper in die Redaktionsstube zurück. »Oh, Sie sind noch da?«, fragte er Cole, während er der Sekretärin einen Artikel zur Abschrift gab.
    Cole verließ

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