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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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tatsächlich irgendwo Platz nahm oder ihre Maschine verließ. Das aber war das Letzte, was passieren durfte. Jeder Schilling, der ihr abgezogen wurde, entfernte sie ein Stück von Amerika.
    Irgendwo ging klirrend eine Flasche zu Bruch. Emily drehte sich um. Drei Reihen hinter ihr hob Susie Robbins, eines der hübschesten Mädchen in der Fabrik, die Scherben vom Boden. Bereits am ersten Tag war Emily aufgefallen, dass manche Arbeiterinnen heimlich Gin tranken, obwohl in der Fabrik der Genuss von Alkohol streng verboten war. Doch manche Frauen brauchten den Schnaps, um sich zu betäuben.
    Während Susie die Scherben eilig in ihrer Schürze verschwinden ließ, tauchte Mr. Davis hinter ihr auf, das Strafbuch in der Hand. Susie stand die Angst im Gesicht geschrieben. Aber der Inspektor ließ sein Strafbuch stecken.
    »Mitkommen!«, sagte er nur und wies den Gang hinunter. Susie atmete erleichtert auf und lief in die Richtung des Baumwolllagers. Während Mr. Davis ihr folgte, blickten die Arbeiterinnen sich viel sagend an. Auch Emily wusste, was jetzt geschah. Susie hatte keine Wahl: Entweder sie tat Mr. Davis einen »Gefallen«, wie die Mädchen das nannten, oder sie verlor ihre Arbeit. Diese Form der Erpressung durch die Inspektoren gehörte so selbstverständlich zum Alltag in der Fabrik wie das Läuten der Glocke zu Beginn und zum Ende der Schicht. Nicht einmal Annie fand etwas dabei, ab und zu im Lager mit einem der Kerle zu verschwinden, wenn sie so eine Kürzung ihres Wochenlohns vermeiden konnte. Das sei weniger langweilig als die Arbeit und billiger als der Schnaps, sagte sie, und außerdem könne ihr ja nichts mehr passieren – sie habe ja schon »ein Brot in der Röhre«.
    Als Susie wenig später mit rotem Kopf aus dem Baumwolllager zurückkam, wurde sie von spöttischen Bemerkungen ihrer Kolleginnen begrüßt.
    »Na, hast du ihm die Spindel ordentlich gebürstet?«
    »Hoffentlich ist das Schiffchen nicht zerbrochen!«
    »Ruhe!«, rief Mr. Davis. »Oder drei Schilling Abzug für jede von euch!«
    Augenblicklich trat wieder Stille ein, und nur das Schnurren der Spindeln und Klappern der Webstühle waren zu hören. Emily schaute auf die Uhr, die am Ende des Saales an der Wand hing: Noch eine Stunde und vierzig Minuten bis Feierabend. War seit der Pause wirklich noch keine halbe Stunde vergangen? Weil die Fenster stets geschlossen blieben, war die Luft im Saal dumpfig und warm und nahezu gänzlich ohne Sauerstoff, dafür aber angefüllt mit Staub und dem Dunst von Maschinenöl, das überallden Boden beschmutzte und wie ranzige Butter roch. Wenn sie wenigstens bei der Arbeit sprechen dürften! Emily warf einen sehnsüchtigen Blick hinüber zu Annie, die gerade einen Faden verknotete, mit so unbeteiligter Miene, als gehörten ihre Finger gar nicht ihr selbst, als wären sie vielmehr Teil der Maschine. Die schwangeren Frauen, die Emily früher gekannt hatte, hatten alle rosige Wangen gehabt, und aus ihren Augen hatte eine ruhige, wissende Freude geleuchtet. Wie blass und matt sah Annie dagegen aus, mindestens doppelt so alt, wie sie in Wirklichkeit war! Sie hatte am Morgen über Schwindelgefühle und Übelkeit geklagt, doch eine Krankmeldung konnte sie sich nicht leisten – Mr. Davis würde sie sofort entlassen. Unwillkürlich strich Emily sich über die Wange. Ob sie selber auch schon so blass und matt aussah?
    Plötzlich schrak sie zusammen.
    »Annie! Was hast du?«
    Ihre Freundin schwankte so sehr, dass sie sich an ihrem Webstuhl festhalten musste. Emily ließ ihre Maschine im Stich und eilte ihr zur Hilfe.
    »Schon gut«, flüsterte Annie, »es geht schon wieder.«
    »Was ist da los?« Mr. Davis zückte sein Strafbuch. »Unerlaubtes Entfernen vom Arbeitsplatz, macht drei Schilling.«
    »Aber ich wollte doch nur meiner Freundin …«
    »Mund halten! Sonst kommt noch der Abzug für unerlaubtes Sprechen hinzu!«
    Emily biss sich fast die Zunge ab, um nicht zu protestieren, und kehrte zu ihrem Webstuhl zurück. Unter Mr. Davis’ misstrauischen Blicken nahm sie ihre Arbeit wieder auf. Doch sie war so aufgebracht, dass sie vor lauter Ungeschick ihr Schiffchen zerbrach.
    »Verfluchter Mist!«, entfuhr es ihr.
    »Hab ich dir nicht gesagt, du sollst den Mund halten?«, sagte Mr. Davis. »Nun, wer nicht hören will, muss fühlen. Macht sechs Schilling fürs Sprechen, und drei für das Schiffchen. Na,die Woche hat sich ja wirklich gelohnt.« Er nahm den Stift, der hinter seinem Ohr klemmte, und trug die Zahlen in das

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