Die Rebellin
Unterhauses, die nach dem Ende der Parlamentsferien in die Stadt zurückgekehrt waren. Während sie alle unter der riesigen Weltkugel, die symbolträchtig in der Kuppel der Halle schwebte, nach ihren Plätzen suchten, tastete Cole nach dem Manuskript für seine Rede, die er in wochenlanger Arbeit vorbereitet hatte. Seine Aufgabe war es, die Idee der Weltausstellung an diesem Abend erstmals der Öffentlichkeit zu präsentieren, und nur wenn es ihm gelang, die Anwesenden von dem großen Plan zu überzeugen, würde Albert sich für das Unternehmen erklären. Der Prinzgemahl hatte sich ausbedungen, seine Entscheidung bis zur letzten Sekunde offen zu halten.
Endlose Minuten vergingen, bis alle Gäste ihre Plätze eingenommen hatten und der Lord Mayor von London, angetan mit der goldenen Kette des Stadtoberhaupts, an das Rednerpult trat, um die Veranstaltung zu eröffnen.
»Die Weltausstellung«, rief er nach kurzer Begrüßung dem Publikumzu, »wird dem Frieden unter den Völkern dienen, den Handel mehren und den Wettbewerb fördern …«
Cole kannte den Text der Rede auswendig, der Lord Mayor hatte sie Wort für Wort mit ihm abgestimmt. Aufmerksam blickte er in die Gesichter. Wie würde das Publikum reagieren? Die Vorstellung, dass der Applaus dieser drei- oder vierhundert Menschen in wenigen Minuten darüber entscheiden würde, ob sein Lebenstraum in Erfüllung ging, machte ihn fast krank vor Anspannung.
»Dieses Ereignis wird die Industrie genauso stärken wie das Handwerk, die Agrarwirtschaft und den Export …«
Noch war nicht zu erkennen, in welche Richtung die Stimmung tendierte. Nervös zupfte Cole an seinem Frack, den er sich eigens zu diesem Anlass für ein Vermögen hatte schneidern lassen. Marian hatte ihn noch am Nachmittag aufgebügelt, obwohl sie kaum die Kraft gehabt hatte, das Bett zu verlassen. Sie war so unglaublich stolz auf ihn, und es war ihr sehnlichster Wunsch gewesen, an diesem Tag, dem vielleicht wichtigsten in seinem Leben, etwas für ihn zu tun. Wie würde sie strahlen, wenn heute der Durchbruch gelänge! Doch die Gesichter der Zuschauer verrieten bis jetzt eher höfliche Gleichgültigkeit als Begeisterung.
»Die Völker Europas und der Welt werden voller Bewunderung auf unsere Insel schauen und alle Anstrengungen unternehmen, es uns gleichzutun …«
Obwohl der Lord Mayor immer stärker die Stimme erhob, begannen einige Zuhörer unruhig auf ihren Stühlen zu rutschen, andere hüstelten und strichen über ihre Kleider. Cole wurde immer nervöser. Wenn nicht bald der Funke übersprang, würde die Stimmung kippen. In seiner Not suchte er Emily. Wo war sie? Er wusste, sie saß irgendwo mit ihren Eltern im Saal, aber er konnte sie nicht entdecken. Er verrenkte sich den Hals nach ihr, in der Hoffnung auf ein zustimmendes Lächeln, ein Kopfnicken – irgendeine Geste der Ermutigung. Aber er sah nur in die Mienen fremder, zunehmend gelangweilter Menschen.
»Dabei bedarf es keiner Protektion durch den Staat. Das ganze Unternehmen wird sich allein finanzieren. Denn das englische Volk kann besser für sich selbst sorgen, als dies jede Regierung vermag …«
An dieser Stelle hatte Cole fest mit dem Beifall der Zuhörer gerechnet, doch keine Hand rührte sich. Im Gegenteil. Mit jedem Satz, den der Lord Mayor sprach, schien er sein Publikum nur noch mehr zu langweilen. Überall im Saal wurde inzwischen mit den Füßen gescharrt. Cole spürte, wie Panik ihn überkam. Die Stimmung war eine Katastrophe, und seine eigene Rede, die er in der Brusttasche seines sündhaft teuren Fracks trug, knüpfte bei ebenjenen Gedanken an, mit denen der Lord Mayor für diese Katastrophe gesorgt hatte. In der ersten Reihe saß Prinz Albert, das blasse Gesicht zu einer Maske erstarrt, und blickte mit übereinander geschlagenen Beinen auf die Spitzen seines blank gewichsten, unaufhörlich wippenden Lackschuhs. Eher würde er seine Ehe mit der Königin von England annullieren, als sich hier und heute zugunsten von Coles großem Traum zu erklären.
»… und nicht zuletzt wird darum diese Ausstellung Großbritanniens Platz an der Spitze der Industrienationen bestätigen, als eindrucksvoller Beweis seiner wirtschaftlichen Leistungskraft und Überlegenheit. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.«
Der Lord Mayor verneigte sich, doch der Applaus war so dünn, dass er kaum das Hüsteln und Scharren im Saal übertönte. Coles Gedanken überschlugen sich. Was sollte er tun? Wenn er jetzt die Rede hielt, die er
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