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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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ihr das in manchen Nächten deutlich zu verstehen, und sie musste endlich ihre Wahl treffen, im großen Irrgarten des Lebens. Ein halbes Dutzend Männer hatte sie schon abgewiesen, doch jetzt wartete einer auf ihr Jawort, der alle Eigenschaften zu besitzen schien, die eine Frau sich nur wünschen konnte, um das Leben mit ihm zu teilen.
    An diesem Gedanken hielt sie sich fest wie ein Schiffbrüchiger im Ozean an einer vorübertreibenden Planke. Sie war vorgestern mit dem Nachtzug aus London zurückgekehrt, froh über jede Meile, die sie sich im rasenden Tempo der Eisenbahn von der Hauptstadt entfernte. Was für eine absurde Idee, sich mit Victor zu treffen! Hatte sie wirklich gehofft, sie könne die Vergangenheit wieder gutmachen? Bei ihrem ersten Wiedersehen hatte sie daran geglaubt, in ihrer Hütte im »Paradies«, doch nein, der Versuch war ein Irrsinn gewesen, eine Verkennung natürlicher Gesetze. Keine zwei Arten, die sich auf ein und dieselbe Art ernähren, können gleichzeitig in ein- und derselben Lebenswelt existieren – das hatte ihr Vater ihr schon als Kind beigebracht. Wie ein Tier hatte Victor sie angeschaut, mit kalten, bösen Augen, und sie so fest am Arm gepackt, dass es ihr wehgetan hatte. War das der Flaschengeist gewesen, vor dem er sie gewarnt hatte? Ach, hätte sie bloß auf ihre Schildkröte gehört …
    Verwirrt wie ein Kind, das sich verlaufen hat, war sie ihrerMutter nach ihrer Rückkehr aus London in die Arme gesunken. Sarah hatte sich über ihr unerwartetes Erscheinen gewundert, auch über die Zärtlichkeit, mit der sie sich an sie geschmiegt hatte, doch zu Emilys Erleichterung hatte sie nicht weiter nach Erklärungen gefragt.
    »Hauptsache, du bist da. Ich habe sowieso mit dir zu reden, bevor dein Vater zurückkommt.«
    Während Emilys Abwesenheit war Henry Cole nach Chatsworth zu Besuch gekommen, um offiziell um ihre Hand anzuhalten. Ihre Mutter hatte ihn hier im Gewächshaus empfangen, sein Service stand immer noch auf dem Tischchen am Teich. Der Anblick berührte Emily wie ein freundlicher Gruß. Die klaren, sauberen Formen zeugten nicht nur von sicherem Geschmack, sondern auch von einem klaren, sauberen Charakter.
    Draußen, jenseits der Glaswände, hinter denen sich im nächtlichen Dunkel die Natur verbarg, miaute irgendwo ein Kater. Emily blickte zum Dach des Gewächshauses hinauf. Durch die Luke, die über dem Wipfel einer Palme in die Verglasung eingelassen war, sah sie den Kater davonhuschen. Erschöpft schloss sie die Augen. Wie Schneeflocken sanken die Rosenblätter, die Victor aus seinem Sack streute, auf sie herab, doch noch in der Luft verwandelten sie sich in ein zappelndes Gewimmel von Blindschleichen.
    »Nanu, was machst du denn noch hier?«
    In der Tür stand ihr Vater, mit einer Reisetasche in der Hand. Er hatte den Tag in Derby verbracht, auf einer Direktionssitzung der Midland Railway. Emily stand auf, um ihn zu begrüßen. Als er die Tasche abstellte, fiel sein Blick auf die frischen Druckfahnen für das
Magazine
, die sie auf dem Teetisch abgelegt hatte.
    »Was für eine wunderbare Reproduktion«, sagte er und blätterte in den aufgeschnittenen Seiten. »Alles tritt darin so deutlich zutage wie in deinen Zeichnungen. Ach, ich glaube fast, es war ein Fehler, das
Magazine
zu verkaufen.«
    Mit einem Seufzer legte er das Bündel beiseite und fuhr sich mit der Hand an die Stirn. Seine Wangen wirkten blass, und sein Blick war seltsam stumpf.
    »Du siehst müde aus, Papa«, sagte Emily. »Hast du wieder Kopfschmerzen?«
    Er nickte.
    »Du solltest dich endlich entschließen, eine Brille zu benutzen. Bei deiner Kurzsichtigkeit ist es kein Wunder, wenn du so oft Kopfschmerzen hast. Nein, keine Widerrede,« fügte sie energisch hinzu, als er die Hand hob. »Ich weiß, du willst nicht, dass jemand deine Sehschwäche bemerkt, aber du schadest dir mit deiner Eitelkeit nur selbst.«
    »Wenn es nur das wäre«, erwiderte er und steckte sich eine Zigarette an.
    »Hattest du Ärger in Derby?«, fragte Emily.
    »Mehr als das. Es hat letzte Nacht ein Attentat auf einen von unseren Zügen gegeben. Die ganze Fracht ist verbrannt.«
    »Das ist ja fürchterlich. Weiß man schon, wer die Täter sind?«
    »Die Polizei tappt im Dunkeln – wahrscheinlich radikale Chartisten. Der Schaden beträgt ein Vermögen. Was aber noch viel schlimmer ist: Die Aktien der Gesellschaft sind über zwanzig Prozent gefallen, an einem einzigen Tag!«
    Jetzt brauchte auch Emily eine Zigarette. Sie tat einen

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