Die Rebellin

vorbereitet hatte, war der Kampf verloren, noch ehe die Schlacht begann. Die Leute hatten keine Lust, sich irgendwelche Phrasen über die Größe Englands und das Wohl der Menschheit anzuhören – so etwas bekamen sie jeden Sonntag in der Kirche vorgebetet. Man musste sie aus ihrer Lethargie aufrütteln, sie begeistern. Aber wie? Cole hatte keine Idee. Die beiden Mundays, die ein paar Reihen hinter dem Prinzgemahlsaßen, zogen Gesichter wie ein Koch und ein Kellner, denen gerade ein Zechpreller davongerannt ist.
    »Mr. Henry Cole!«
    Er zuckte zusammen, als er plötzlich seinen Namen hörte. Ohne nachzudenken, wie ein Soldat, der dem Befehl seines Vorgesetzten folgt, trat er durch den Vorhang. Wie lange hatte er diesem Augenblick entgegengefiebert, doch nun, als er endlich da war, verspürte er nur noch Angst. Das Publikum im Saal erschien ihm wie ein großes, träges, böses Tier, das nur einmal mit der Tatze nach ihm ausholen musste, um ihn zu vernichten. Ohne eigenen Willen, wie eine mechanische Puppe zog Cole sein Manuskript aus der Tasche, und seine Hände zitterten, als er ans Rednerpult trat, um sich vor dem grausamen Tier zu verbeugen. In wenigen Minuten, sobald er den Text verlesen hatte, würde sein großer Traum zerplatzt sein, zerschellt an dem gelangweilten und hochmütigen Desinteresse, das ihm aus dem Saal entgegenschlug.
    Am liebsten wäre Cole in der Verbeugung verharrt, doch irgendwann musste er sich wieder aufrichten. Als er es schließlich tat, spürte er ein Augenpaar auf sich ruhen. Unwillkürlich blickte er zur Zuschauertribüne hinauf und entdeckte Emily, die dort zwischen ihren Eltern saß, halb verdeckt von dem großen, blumengeschmückten Hut ihrer Mutter. Sie hob ein wenig die Hand, um ihn zu grüßen, und lächelte ihm zu, ruhig und voller Zuversicht.
    Als er dieses Lächeln sah, war es, als hätte jemand ein Licht angezündet. Alle Angst fiel von ihm ab, seine Hände hörten auf zu zittern. Plötzlich wusste er, was er zu sagen hatte.

21
     
    »Leben wir nicht in einer wunderbaren Zeit? In einer Zeit, die uns mehr Wunder beschert als jede Epoche zuvor, seit den sieben Tagen der Schöpfung? Denn was sich in unserer Zeit vollzieht, das eine große allumfassende Werk, ist eine neue Genesis, eine zweite Schöpfung, die mit der ersten um die Krone ringt. Von nichts Geringerem wird die Weltausstellung Zeugnis geben. Wir werden alle Schätze und Reichtümer des Erdkreises hier versammelt sehen, an einem einzigen Ort. Das Gold Kaliforniens wird für uns glänzen, neben funkelnden indischen Diamanten, Silber aus Mexiko, Eisen aus Wales. Dampfmaschinen werden vor unseren Augen ihre gewaltigen Kräfte entfalten, für den Einsatz zu Wasser und zu Lande. Webstühle aus dem muslimischen Dacca, seit Jahrhunderten in Gebrauch, werden in einem Raum mit modernen mechanischen Webstühlen stehen und Druckpressen der
Times
, die zehntausend Zeitungsexemplare pro Stunde produzieren. Mit einem Wort, Ladies und Gentlemen: Wir werden hier, in unserem geliebten London, der Hauptstadt der Welt, das doppelte Wunder der Schöpfung erleben, der Schöpfung Gottes und der Schöpfung von Menschenhand, im Augenblick ihrer gemeinsamen Vollendung – das Paradies auf Erden.«
    Als Henry Cole das letzte Wort gesprochen hatte, hob Emily ihre Hände, um zu klatschen. Frei, ohne Manuskript, hatte er seine Rede vorgetragen, ohne ein einziges Mal zu stocken, erfüllt von seiner Mission. Doch niemand im Saal rührte eine Hand. Stattdessen trat eine unwirkliche Stille ein. Nichts regte sich, kein Beifall, nicht mal ein Husten oder Füßescharren. Verwirrt blickte Emily sich um. Hatte niemand außer ihr begriffen, was für eine großartige Rede Henry Cole gehalten hatte? Auch ihr Vater zuckte die Schultern, genauso ratlos wie sie.
    Da brach der Sturm los. Erst das zögernde Klatschen irgendeineseinsamen Händepaares, dann plötzlich, wie auf ein Kommando, explodierte das Publikum, als wären alle Kanonen des Towers gleichzeitig losgegangen. Die Zuhörer sprangen von ihren Plätzen, die Bürgermeister, die Parlamentsabgeordneten, sogar des Gouverneur der Bank von England hielt es nicht länger auf seinem Stuhl. Die beiden Mundays lagen sich in den Armen, und Thomas Baring und Nathan Rothschild strahlten, als würde es Manna vom Himmel regnen. Wieder und wieder musste Cole sich verbeugen, und als Prinz Albert die Bühne betrat, um ihm zu gratulieren, schwoll der Applaus zu einem wahren Orkan an, ein Brausen und Rufen, Klopfen und