Die Rebellin
verstehe ich heute, was damals vorgefallen ist.«
Der Priester zögerte einen Moment, stellte den grünen Kasten dann auf den Fußboden und öffnete das Schloss. Mando rutschte an der Wand zu Boden und sah gespannt, wie ihr Onkel die etwa 70 Zentimeter hohe Figur aus mehreren Stofflagen schälte und auf den Fußboden stellte.
»Denkst du noch immer, dies ist der liebe Gott?«, fragte er leise.
Mando schüttelte den Kopf. Sie war einen Moment sprachlos, spürte wieder die gleiche Ehrfurcht in ihr aufsteigen, die sie als Kind geleitet hatte dem lieben Gott ein Haus zu geben. Jetzt war sie einundzwanzig Jahre alt und es war ihre Kenntnis von Kunst und Kultur, die sie den Atem anhalten ließ. Vor sich sah sie eine mächtige, in sich ruhende Männergestalt, die auf einem Thron saß, die goldene Sandalen und einen Mantel mit einem Figuren- und Blütenmuster trug. Ein Kranz aus Ölzweigen krönte das Haupt und in der Linken hielt der Sitzende ein metallbeschlagenes Zepter. Mando erkannte die Nike in seiner rechten Hand. Auch diese Figur war aus Gold und Elfenbein gefertigt und ebenfalls bekränzt. Mit einem Finger näherte sich Mando Thron und Schemel, aber sie wagte es nicht, die plastisch gemalten und verzierten Figuren aus Holz, Elfenbein, Gold und anderem kostbaren Material, das sie nicht kannte, zu berühren.
»Zeus«, flüsterte sie. »Das Kultbild des Phidias.«
»Eine Nachbildung«, nickte Pappas Mavros, »wenn du genau hinsiehst, kannst du die Figurenfriese erkennen, da, der Tod der Niobekinder, hier oben an der Rückenlehne die Horen und Moiren, und schau, hier unten die goldenen Figuren auf dem schwarzen Stein, die Geburt der Aphrodite, die Götterschar …«
»Was stellt das hier dar?«, fragte Mando, die sich inzwischen der Länge nach auf den Fußboden gelegt hatte und ganz dicht an die Figur herangerutscht war.
»Die Amazonenkämpfe«, klärte Pappas Mavros sie auf, »sieh hier, am Fußschemel wird das Thema weiter verfolgt, hier ist Theseus der Vorkämpfer, kaum zu erkennen, auf dem zwölf Meter hohen Original sicher sehr beeindruckend. Mando, sieh mich an …«
Der Pope hatte sich vor die Figur gehockt, sein weites schwarzes Gewand fächerartig um sich ausgebreitet. Sein fahles langes Gesicht mit den intensiven, fast stechenden Augen erinnerte Mando an ein El-Greco-Gemälde.
»Ja?«, fragte sie.
»Hast du eine Ahnung vom Wert dieser Figur?«
»Von wann stammt sie?«, fragte Mando zurück.
»Das ist nicht wichtig«, erwiderte er, leicht ungehalten.
»Und ob das wichtig ist!«
Mando setzte sich auf und berührte ihren Onkel aufgeregt an der Schulter. »Das hier ist eine Nachbildung eines der sieben Weltwunder! Stellen Sie sich einmal vor, dieser Zeus stammte aus der Zeit, als das Kultbild noch nicht verschwunden war, eine wirkliche Nachbildung der richtigen Sache!«
»Mando, Mando«, seufzte der Pope. »Du musst doch gelernt haben, dass es keine derartige Figur gibt. Wir wissen nur aus den Schriften des Pausanias, wie der Zeus des Phidias ausgesehen hat, und irgendein Künstler unserer Zeit hat sich nach der Beschreibung gerichtet und eine recht gelungene Arbeit abgeliefert …«
»Aber vielleicht stammt es doch aus der Antike! Immer wieder taucht irgendwo eine griechische Skulptur auf, die irgendwo von irgendwem ausgegraben wurde, warum also nicht auch eine echte Kopie des Kultbildes?«
»Und so eine Kostbarkeit würde dann bei deinen Eltern in einem grünen Kasten aufbewahrt werden? Denk doch mal nach, mein Kind!« Er schüttelte den Kopf. »Du bist eine Schwärmerin, das hat dein Vater schon immer gesagt.«
»Hat er das? Und wofür habe ich seiner Meinung nach geschwärmt?«
»Für alles Unerreichbare.«
Ganz vorsichtig berührte Mando den Bart des Zeus. »Weiß man, wer die Figur gemacht hat? Wie sie in unsere Familie gekommen ist? Was sie wert ist?«
»Sie ist ganz bestimmt sehr wertvoll, denn Gold und Edelsteine sind echt, und das Elfenbein ist fein verarbeitet«, erwiderte der Pope. »Deshalb hat mich dein Vater in seinem letzten Brief auch gebeten sie so lange aufzubewahren, bis ich sie dem rechtmäßigen Besitzer zurückgeben kann.«
Mando blickte überrascht auf. »Sie gehört gar nicht uns?«
Pappas Mavros schüttelte den Kopf.
»Und wer ist der rechtmäßige Besitzer?«
Ein feines Lächeln spielte um die Lippen des Popen. Er ließ sich mit der Antwort Zeit.
»Der rechtmäßige Besitzer«, sagte er langsam, »kann seinen Anspruch im Augenblick nicht geltend machen, weil
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