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Die Regenbogentruppe (German Edition)

Die Regenbogentruppe (German Edition)

Titel: Die Regenbogentruppe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Hirata
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zu klein, um eine Tragödie wie die von Bodenga und seinem Vater zu erfassen. Doch wann immer mir in den Jahren danach traurig zumute war, stieg in mir die Erinnerung an Bodenga hoch. An jenem Nachmittag hatte mir Bodenga gezeigt, was Vorahnung bedeutet. Und zum ersten Mal in meinem Leben erfuhr ich, wie furchtbar einen das Schicksal treffen und wie blind Liebe sein kann.
    *
    Anders als ich, hatte Lintang keine emotionale Beziehung zu Bodenga. Aber es war nicht das erste Mal, dass ihm ein Krokodil den Weg zur Schule versperrte. Lintang setzte immer wieder dem Unterricht zuliebe sein Leben aufs Spiel. Aber er fehlte niemals. Vierzig Kilometer hatte er täglich auf seinem Schulweg zurückzulegen. Wenn der Unterricht bis zum Nachmittag dauerte, kam er erst bei Dunkelheit zu Hause an. Mich schauderte manchmal, wenn ich an seinen Schulweg dachte.
    Dabei waren noch gar nicht die anderen Schwierigkeiten eingerechnet, wie etwa Wege, die in der Regenzeit manchmal bis in Brusthöhe überflutet waren. Wenn das Wasser zu hoch war, ließ er sein Fahrrad an einem höhergelegenen Baum stehen, schwamm durchs Wasser und lief dann zu Fuß weiter.
    Da es bei ihm zu Hause keine Uhr gab, verließ sich Lintang auf die natürliche Zeit. Einmal krähten die Hähne, und Lintang eilte zum Morgengebet. Danach holte er sein Fahrrad und machte sich auf den Weg zur Schule. Unterwegs kamen ihm Zweifel, denn es war noch sehr kalt und stockdunkel. Im Urwald war noch kein Laut zu hören. Auch keine Vogelstimmen wie sonst. In der Tat war es erst um Mitternacht herum. Er ließ sich mitten im Wald unter einem Baum nieder, umarmte seine Knie und wartete, zitternd vor Kälte, auf den Morgen.
    Ein andermal riss die Kette an seinem Fahrrad. Weil sie schon zu oft gerissen und deshalb zu kurz war, ließ sie sich auch nicht mehr reparieren. Trotzdem kehrte er nicht um. Er nahm das Fahrrad und schob es die restlichen Kilometer. Als er in der Schule ankam, wollten wir gerade heimgehen. In der letzten Stunde hatten wir Musik gehabt. Lintang freute sich, dass er nach vorn kommen und vor der ganzen Klasse das Lied »Dir mein Vaterland« singen durfte.
     
    Dir, mein Vaterland, versprechen wir
    Dir, mein Vaterland, dienen wir
    Dir, mein Vaterland, widmen wir
    Mein Vaterland, du bist uns Leib und Seele.
    Lintang sang mit Hingabe, keine Spur von Müdigkeit in seinen funkelnden Augen. Nachdem wir das Lied beendet hatten, nahm er sein Fahrrad wieder und schob es die zwanzig Kilometer nach Hause.
    *
    Anfangs hatte Lintangs Vater geglaubt, sein Sohn würde schon in den ersten Wochen aufgeben, aber da hatte er sich geirrt. Lintangs Begeisterung nahm nicht ab, sie stieg sogar von Tag zu Tag, denn er liebte die Schule und war geradezu süchtig danach, tief in die Geheimnisse des Wissens einzudringen. Wenn er nach Hause kam, ruhte er sich nicht etwa aus, sondern schloss sich den anderen Kindern im Dorf an, um bei der Kopraaufbereitung zu helfen. Das war sein Ausgleich dafür, dass er den »Luxus« genoss, zur Schule gehen zu dürfen.
    Als Lintang noch in der ersten Klasse war, fragte er eines Tages seinen Vater nach einem ganz einfachen Problem bei den Hausaufgaben.
    »Komm doch mal her, Vater. Wie viel ist vier mal vier?«
    Sein Vater, der ja Analphabet war, lief hin und her. Er blickte durchs Fenster weit hinaus aufs Meer, und als Lintang einen Moment nicht aufpasste, schlüpfte er heimlich zur Hintertür hinaus und lief, so schnell er konnte, durch das Lalang-Gras ins Dorf, um sich bei der Gemeindeverwaltung Rat zu holen. Dann rannte er ebenso schnell zurück nach Hause, schlüpfte unbemerkt durch die Hintertür herein und stand wieder vor seinem Sohn.
    »Vier … hm, vierzehn, mein Junge, du brauchst keine Zweifel zu haben, vierzehn, nicht weniger und nicht mehr«, sagte er noch außer Atem und lächelte breit vor Freude. Lintang sah seinem Vater tief in die Augen, ein Stich fuhr ihm ins Herz, ein Schmerz, der ihn geloben ließ: Ich muss ein gescheiter Mensch werden. Nach diesem Erlebnis war Lintang noch eifriger in der Schule. Weil er für das große Fahrrad anfangs noch zu klein war, konnte er nicht auf dem Sattel sitzen, sondern nur auf der Mittelstange, wobei er selbst dann die Pedale nur mit den Zehenspitzen erreichte. Er hüpfte auf der Stange auf und nieder und biss sich auf die Lippen, um alle Kraft zusammenzunehmen. Trotzdem kam er gegen den Wind nur langsam voran. So ging das Tag für Tag.
    *
    Lintangs Haus lag am Meer. Es war ein Holzhaus, das auf Stelzen

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