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Die Regenbogentruppe (German Edition)

Die Regenbogentruppe (German Edition)

Titel: Die Regenbogentruppe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Hirata
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löste sich plötzlich unvermutet einer der Balken aus dem Stapel hinter mir, und ich bekam etwas Bewegungsfreiheit. Ich nutzte die Gelegenheit, nahm all meine verbliebene Kraft zusammen und trat Samson mit Wucht genau zwischen die Beine.
    Samson fuhr zurück und hüpfte jaulend auf und ab. Ich sprang auf und rannte Hals über Kopf davon.
    Tagelang waren auf meiner Brust zwei rote Kreise zu sehen, die langsam schwarz wurden, Mahnmale meiner eigenen Blödheit.
    Als mich meine Mutter danach fragte, war ich in großer Verlegenheit, denn jeden Freitagmorgen wurde uns im Ethikunterricht beigebracht, man dürfe seine Eltern nicht belügen, erst recht nicht seine Mutter. Und so musste ich gezwungenermaßen meine Dummheit offenbaren. Meine älteren Brüder und mein Vater wollten sich vor Lachen ausschütten. Und meine Mutter präsentierte mir zum ersten Mal ihre Theorie über den Wahnsinn.
    »Es gibt zig Arten von Verrücktheit«, erklärte meine Mutter betelkauend, aber mit der Autorität eines professionellen Psychiaters. »Die Arten mit den niedrigen Ziffern sind die schlimmsten«, sagte sie kopfschüttelnd und sah mich an wie einen Patienten in der Irrenanstalt. »Die schlimmste Verrücktheit ist es, wenn Leute nackt auf der Straße herumlaufen und nicht mehr wissen, wo sie sind. Das ist die Verrücktheit Nr. 1. Was ihr mit den Tennisbällen angestellt habt, zählt bereits zur Nr. 5, das ist schon ein ernster Fall. Pass bloß auf, wenn du deinen Verstand nicht benutzt, kannst du schnell auf eine niedrigere Zahl kommen!«
    *
    In der Vorstellung der Malaien ist das Schicksal ein lebendiges Wesen und wir waren zehn seiner Spielbälle. Wir waren wie kleine Muscheln, die fest aneinanderhingen, um uns gegen den Wellenschlag im endlosen Meer des Wissens zu behaupten. Vor meinem inneren Auge ließ ich sie alle Revue passieren: Harun, der immer lächelte, der schöne Trapani, der winzige Syahdan, Kucai, der sich für etwas Besseres hielt, die schroffe Sahara, der schlichte A Kiong und dann der achte, Samson, der dasaß wie ein Ganesha.
    Und wer ist der neunte und wer der zehnte? Lintang und Mahar. Was gibt es von ihnen zu erzählen? Sie sind beide ganz besonders. Sie brauchen jeder ein Kapitel für sich.

 
     
     
    9  Eines Morgens kam Lintang, ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Gewohnheit, zu spät zum Unterricht. Seine Entschuldigung war ziemlich aufregend.
    »Ich konnte nicht vorbei. Ein Krokodil, so groß wie ein Palmstamm, lag mitten auf dem Weg.«
    »Ein Krokodil?«, fragte Kucai.
    »Ich hab geklingelt und in die Hände geklatscht, laut gehustet, um das Krokodil zu verscheuchen. Aber es rührte sich nicht vom Fleck. Ich konnte nur still stehenbleiben und mit mir selbst sprechen. Seine Größe und der Kamm auf seinem Rücken zeigten, dass es der Herrscher in diesem Sumpf war.«
    »Warum bist du denn nicht einfach zurück nach Hause gegangen?«, fragte ich.
    »Ich hatte schon über die Hälfte des Schulwegs hinter mir, ich werde doch wegen so einem blöden Krokodil nicht umkehren!«
    Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was Lintang im Angesicht des Krokodils zu sich selbst gesagt hatte: »In meinem Wortschatz kommt das Wort ›schwänzen‹ nicht vor, außerdem haben wir heute Geschichte des Islam, ein besonders interessantes Fach. Ich möchte so gern die heiligen Verse diskutieren, in denen der Sieg über Byzanz sieben Jahre im Voraus bestimmt wurde.«
    »Hast du niemanden um Hilfe gebeten?«, fragte Sahara ängstlich.
    »Da war niemand, nur ich, das Riesenkrokodil und der drohende Tod«, entgegnete Lintang trocken. »Ich war verzweifelt. Da hörte ich plötzlich ganz dicht neben mir ein leises Plätschern. Ich fuhr zusammen und bekam es noch mehr mit der Angst zu tun.«
    »Was war das?«, fragte Trapani erschrocken.
    »Aus dem Sumpf stieg eine unheimliche Gestalt und kam auf mich zu«, erzählte Lintang weiter.
    »Wer war das, Lintang?«, wollte Sahara wissen.
    »Bodenga …«
    »Ohhh!«, schrien wir alle gleichzeitig auf und schlugen die Hände vor den Mund.
    »Vor ihm hatte ich größere Angst als vor jedem Krokodil.«
    Wir wussten Bescheid. Jeder an der Ostküste von Belitung kannte den Mann, der aus dem Sumpf emporgestiegen war, aber alle wichen ihm aus.
    »Und weiter?«, fragte Borek ängstlich.
    »Er ging an mir vorbei, als wäre ich gar nicht vorhanden, und trat ohne Zögern auf das Untier zu. Er fasste es einfach an! Er tätschelte es sanft und murmelte etwas dazu. Es war ganz merkwürdig, es sah aus, als

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