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Die Regenbogentruppe (German Edition)

Die Regenbogentruppe (German Edition)

Titel: Die Regenbogentruppe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Hirata
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stand, damit es gegen Sturmfluten geschützt war. Es hatte ein Dach aus Zweigen der Sagopalme und besaß Holzwände aus Meranti-Rinde. Was im Haus geschah, konnte man von außen sehen, denn die Rinde war schon viele Jahre alt und aufgeplatzt wie sumpfige Erde in der Trockenzeit. Der Innenraum war lang, aber recht schmal, vorn und hinten jeweils eine Tür. Türen und Fenster besaßen keine Schlösser. Nachts wurden sie einfach an die Rahmen gebunden.
    Beide Großeltern väterlicher- und mütterlicherseits lebten mit in dem Haus. Sie waren schon hochbetagt und voller Runzeln, so tief, dass man sie daran hätte packen und halten können. Jeden Tag beugten sie ihre zerfurchten Gesichter über einen flachen Reisbehälter und suchten in dem drittklassigen Reis – dem einzigen, den sie sich leisten konnten – nach Reiskäfern und -würmern. Das konnte oft Stunden dauern, denn in dem minderwertigen Reis fanden sich entsetzlich viele kleine Schädlinge.
    Außerdem lebten noch zwei jüngere Brüder von Lintangs Vater im Haus. Der eine saß den ganzen Tag nur da und träumte vor sich hin, da er geistig behindert war, der andere, ein unverheirateter Mann, konnte nur leichte Arbeiten verrichten, weil er an einem Leistenbruch litt. Dazu kamen Lintangs fünf jüngere Schwestern, Lintang selbst und seine beiden Eltern, zusammen also vierzehn Personen. Sie alle lebten zusammengepfercht in dem langen, engen Haus. Und für alle vierzehn musste Lintangs Vater allein aufkommen. Jeden Tag wartete er darauf, dass seine Nachbarn, die ein Boot besaßen, oder Fischer mit einem modernen, großen Netz auf dem Meer seine Hilfe brauchten. Er bekam allerdings keinen Anteil am Fang, sondern musste sich für den Einsatz seiner Kräfte mit einem bestimmten Lohn begnügen. Um zu überleben, verkaufte er seine Körperkraft.
    Lintang konnte also erst spät am Abend anfangen zu lernen, weil vorher in dem Haus große Unruhe herrschte und es schwierig war, überhaupt einen freien Platz zu finden. Außerdem gab es immer Streit um die Petroleumlampe. Sobald er allerdings ein Buch in die Hand nahm, verließ sein Geist die schiefe Hütte mit der Wand aus Baumrinde und flog weit weg. Lernen war für ihn ein Vergnügen, bei dem er alle Last des Tages vergaß. Bücher waren für ihn das heilige Wasser, das ihm die Kraft verlieh, sich am nächsten Tag wieder mit dem Fahrrad gegen den Wind zu stemmen. Und eines Nachts – von fern war das Rollen der Brandung zu hören – saß Lintang im trüben Schein der Petroleumlampe da und wandte mit glänzenden Augen Seite um Seite des grob vervielfältigten Bandes mit dem Titel »Astronomie und Geometrie«. Er war in die wunderbaren Worte Galileo Galileis und seine Rebellion gegen die Kosmologie des Aristoteles versunken und träumte. Er war hingerissen vor Bewunderung für die kühnen Ideen der Astronomen früherer Zeiten, die unbedingt die Entfernung der Erde zur Andromeda und zum Triangulumnebel berechnen wollten. Lintang stockte der Atem, als er erfuhr, dass die Schwerkraft Lichtstrahlen ablenken kann. Verblüfft las er von frei schweifender Materie in den dunklen Winkeln des Kosmos, die möglicherweise bisher nur ein Nikolaus Kopernikus in Gedanken besucht hatte.
    Als er bei der Geometrie angekommen war, begriff er in kürzester Zeit die komplizierte Technik der Berechnung von Tetraedern, die Axiome der Ausdehnung und die Lehrsätze des Pythagoras. All dies ging weit über sein Alter und seinen bisherigen Unterricht hinaus, aber er folgte den komplexen Gedankengängen im Lichtschein der Petroleumlampe mit schlafwandlerischer Sicherheit. Und in diesem Moment, in der Stille der Nacht, wurde er hellwach, denn vor ihm auf den verblichenen Seiten begannen die Buchstaben und Zahlen zu flimmern und zu leuchten, die ganze Hütte war erhellt und ihm war, als säße er gemeinsam mit den Vätern der Geometrie um einen Tisch.
    Am nächsten Tag wunderte sich Lintang über uns, dass wir Probleme mit dem dreidimensionalen Raum hatten.
    Es gibt Menschen, die wissen nichts von ihrer Dummheit, anderen aber ist kaum bewusst, dass sie von Gott besonders reich beschenkt sind und sich ihnen das Reich der Wissenschaft wie von selbst erschließt.

 
     
     
    10  Es war August, der Monat der schlechten Nachrichten.
    Unsere Schule war seit Langem ein Problemfall. Ständig waren wir in Geldschwierigkeiten, und das Schulgebäude drohte nun endgültig zusammenzubrechen. Doch Bu Mus und Pak Harfan flößten uns immer wieder neuen Mut ein und

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