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Die Regenbogentruppe (German Edition)

Die Regenbogentruppe (German Edition)

Titel: Die Regenbogentruppe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Hirata
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Auge in Auge gegenüber. Es war ein Gefühl, das ich nicht mit Worten beschreiben kann. Die Kreide, die sie aufgesammelt hatte, fiel ihr wieder aus der Hand. Die Kreidestücke in meiner Hand fühlten sich an wie Eis.
    In dem Moment dachte ich, alle Uhren dieser Welt blieben stehen. Sämtliche Bewegung in der Welt wäre plötzlich erstarrt. Mir war, als würde ich schweben. Ich hörte A Miauw rufen, aber ich konnte kein einziges Wort verstehen. Alle meine Sinne waren ausgeschaltet. » Siun! Siun! Schnell!«, riefen die Träger, ich sollte beiseitetreten. Es hallte in meinen Ohren von ferne her wider, kam wie aus einer tiefen Höhle, aber ich überhörte ihre Rufe. Meine Zunge war gelähmt, ich brachte kein einziges Wort heraus und konnte mich nicht bewegen. Das Mädchen hatte mich vollkommen in Bann geschlagen. Ihr Blick traf mich ins Herz.
    Sie hatte ein wunderhübsches ovales Gesicht wie Michelle Yeoh, der malaysische Filmstar. Sie trug ein Kleid, als wollte sie zu einer Hochzeit gehen, hellgrün, eng anliegend mit einem Muster aus kleinen Portlandrosen. Jetzt war also ein jahrelang gehütetes Geheimnis gelüftet. Die Besitzerin der schönen Fingernägel war ein schönes junges Mädchen mit einer unbeschreiblichen Ausstrahlung.
    Das Blut war ihr ins Gesicht geschossen. Sie schämte sich plötzlich fürchterlich, stürzte fort und schlug die Tür mit Wucht zu. Sie kümmerte sich nicht um die Kreide und nicht um mich, der ich noch wie angewurzelt dastand.
    Der Knall der Tür ließ mich wieder zu mir kommen. Ich war verwirrt, schwankte, mir flimmerte es vor den Augen. Eine Zeitlang stand ich sprachlos da, meine Knie zitterten. Mein Atem flatterte, ich hörte das Blut in meinen Adern rauschen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Sie hatte mich wie ein jäher Schlag getroffen.
    *
    Ich kümmerte mich nicht mehr um die Kreide am Boden. Mit der halbvollen Schachtel in der Hand verließ ich den Laden. Ich fühlte mich so leicht wie noch nie, alle Schwere war von mir abgefallen. Ich kam mir vor wie ein Heiliger, der über Wasser laufen kann. Das klapprige Fahrrad von Pak Harfan sah aus wie neu. Mich hatte ein wunderbares Glücksgefühl erfasst, wie ich es noch nie erfahren hatte. Es übertraf bei Weitem das Glück, das ich empfand, als mir meine Mutter ein Dualband-Transistorradio schenkte, weil ich in meine Beschneidung eingewilligt hatte.
    Als ich aufs Fahrrad stieg, blickte ich noch einmal verstohlen zum Laden zurück. Und tatsächlich, da stand das Mädchen mit den wunderschönen Nägeln hinter dem Muschelvorhang und spähte mir nach. Der Vorhang schützte sie etwas vor meinen Blicken, aber sie verbarg ihre Gefühle nicht. Ich flog wieder auf zu den funkelnden Sternen, tanzte auf den Wolken. Dort zwischen den ranzigen Kemirinüssen, den Dosen mit Petroleum und den Säcken mit Jengkol-Bohnen hatte ich meine Liebe gefunden.
    Ich bedachte Syahdan mit meinem schönsten Lächeln, erntete einen verwunderten Blick, hob ihn hoch und setzte ihn hinter mich aufs Fahrrad. Ich war ein Mann von unbegrenzter Kraft geworden. Ich hätte Syahdan mit Vergnügen bis ans Ende der Welt gefahren.
    Nach dem Unterricht rief Bu Mus mich und Syahdan wegen der fehlenden Kreide zu sich. Ich schwieg, denn ich wollte nicht lügen. Ich wollte nicht auf ihre Fragen antworten und wollte mich auch nicht verteidigen. Ich war bereit, jede denkbare Strafe über mich ergehen zu lassen – selbst wenn es heißen sollte, den Eimer wieder heraufzuholen, den Trapani am Tag zuvor in den schrecklichen Brunnen hatte fallen lassen. Ich konnte nur an das Mädchen mit den wundervollen Nägeln denken und an den herrlichen Augenblick, als mich die Liebe ergriff. Tatsächlich war meine Ahnung richtig gewesen. Doch als ich in den Teufelsbrunnen stieg, um den Eimer hochzuholen, hatte er sich auf wunderbare Weise verwandelt. Die Höhle der Dämonen war richtig schön geworden. Ja, die Liebe …

 
     
     
    18  Der Karneval zum Unabhängigkeitstag am 17. August bot uns die Gelegenheit, das Ansehen unserer Schule zu erhöhen. Jedes Jahr wurden Preise in verschiedenen Kategorien vergeben, für die schönsten Kostüme, die kreativsten Ideen, das am schönsten geschmückte Fahrzeug, die harmonischste Gruppe und – der begehrteste – für den künstlerisch gelungensten Auftritt.
    Bu Mus und Pak Harfan machten sich keine großen Hoffnungen, denn wie üblich fehlten uns die Mittel, die wir gebraucht hätten, um einen präsentablen Zug aufzustellen. Die staatlichen Schulen waren

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