Die reinen Herzens sind
über dem Horizont aufgetaucht war. Die Luft war noch kühl, eine salzige Brise wehte von den Wellen herüber. Nur ein Jammer, daß er die Szenerie nicht genießen konnte.
Die Geschäfte waren noch geschlossen. Nur ein paar Cafés hatten bereits zum Frühstück geöffnet. Die Gäste waren typische Bewohner von Venice, ältere Leute, Studenten, Althippies und Künstlertypen. Und die Obdachlosen mit ihren Habseligkeiten in Plastiktüten. Sie saßen Seite an Seite an Tischen im Freien, tranken Kaffee und aßen Croissants, während sie lasen oder auf den Rhythmus der Wellen horchten.
Parkbänke waren ebenfalls beliebte Sammelpunkte der Penner. Einige aßen Sandwiches aus Tüten, andere löffelten den Inhalt von Konservendosen aus. Ein alter Farbiger, gebeugt unter einem riesigen Rucksack, las eine Morgenzeitung, während um ihn herum hitzig diskutiert wurde. Marge und Decker konnten sie alle unbehelligt passieren. Um diese frühe Stunde wähnten alle offenbar nur Einheimische unterwegs. Und die bettelte niemand an.
Decker studierte die Gesichter, während er nach Robles’ Adresse Ausschau hielt. Die Frauen und Männer wirkten ungepflegt, aber nicht unglücklich. Sie mochten ganz unten auf der sozialen Leiter angelangt sein, aber sie waren nicht verloren.
Robles’ Adresse war ein blockartiges Apartmentgebäude, schachbrettartig überzogen mit Verandafenstern. Die Fassade bestand aus einer Holzwand, die in unterschiedlichen Tönen von beige bis braun gestrichen war, um alte Graffitis zu überdecken. Hinter Robles’ Fenstern waren die Vorhänge zugezogen. An der Haustür blätterte die weiße Farbe ab. Sie hatte weder Türklopfer noch Klingel. Decker klopfte mit dem Fingerknöchel.
Wie auf Kommando begann drinnen ein Baby zu weinen. Marge sah Decker mit breitem Grinsen an. Sie war plötzlich aufgeregt. »Weit hergeholt, hast du gesagt, was?«
»Auch Leute, die Robles heißen, dürfen ein Baby haben, Marge.«
»Gib’s doch zu. Du hast auch Herzklopfen.«
Herzrasen wäre korrekter, dachte Decker. So sehr er auch versuchte, sich eine größere Enttäuschung zu ersparen, er konnte nicht anders als hoffen. Er klopfte erneut. Schließlich meldete sich eine rauchige Frauenstimme hinter der Tür und fragte, wer da sei.
»Polizei, Madam«, antwortete Marge. »Haben Sie einen Moment Zeit für uns?«
Am anderen Ende war es still. Zu lange still. Decker klopfte kräftiger. »Polizei, Madam! Aufmachen!«
»Sollen wir die Tür aufbrechen?« fragte Marge.
»Dazu haben wir vermutlich kein Recht.«
»Aber das Baby schreit.«
»Das tun Babys nun mal«, sagte Decker. »Wo ist die Hintertür?«
»Ich glaube nicht, daß es eine gibt.«
»Gut, dann kann sie sich nicht verkrümeln.« Decker schlug mit der Faust gegen die Tür. »Polizei! Aufmachen. Sofort.«
Einen Moment später ging die Tür einen schmalen Spalt auf. Eine dünne, wenig abschreckend wirkende Kette blieb vorgelegt. »Was wollen Sie?« fragte die Frau.
»Ihnen ein paar Fragen stellen«, erklärte Marge.
»Dann reden Sie!«
»Machen Sie die Tür auf, Madam!« beharrte Decker.
»Bevor ich aufmache, möchte ich die Dienstmarken sehen.«
Marge zückte ihre Marke und hielt sie vor den Spalt. Daraufhin wurde die Tür kurz geschlossen und vollständig geöffnet.
Decker verschlug es die Sprache.
Vor ihm stand eine ältere Ausgabe von Marie Bellson. Sein Verstand sagte ihm zwar, daß Maries Mutter in einem Altenheim lebte, aber diese Frau, er schätzte sie auf Ende Fünfzig, war Maries älteres Ego. Sie hatte das gleiche längliche Gesicht mit feinen Fältchen um Mund und Augen, war groß und schlank. Lediglich die Augenfarbe stimmte nicht. Während Marie grüne Augen mit braunen Einsprenkelungen hatte, blickten Decker hier schlammbraune Augen entgegen, die an trübes Brackwasser erinnerten.
Wer war diese Frau, die so verbraucht wirkte? In welchem Verhältnis stand sie zu Marie?
Das Baby, das sie in den Armen hielt, war dunkelrot angelaufen, hatte wirres, schwarzes Haar und schrie aus vollem Hals. Während sie das Kind heftig hin und her wiegte, sah sie Decker prüfend an. Dann strich sie sich mit der Hand über den weißen Bademantel.
»Ich weiß, weshalb Sie hier sind«, sagte sie. »Aber ich wehre mich mit allen Mitteln. Typisch für unsere Bürokratie!« Sie legte den Säugling über ihre Schulter und klopfte ihm leicht auf den Rücken. »Das Baby ist unser Fleisch und Blut. Der Staat hat kein Recht, sie zur Adoption freizugeben, solange sie lebende
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