Die reinen Herzens sind
vermutlich als süßes kleines Mädchen in Erinnerung. Zu sehen, daß aus ihr eine psychisch labile, fettsüchtige und bemitleidenswert schüchterne Frau geworden war, dürfte ein Schock gewesen sein. Und erst Tandy! Ein Blick auf Marie, und sie hat vermutlich die liebevolle Mutter in ihr gesehen, die sie nie gehabt hatte. Vielleicht hat sie sie in ihren wirren Gedanken für ihre richtige Mutter gehalten.«
»Nachdem sie die eine Mutter gründlich satt hatte, hat sie Marie ausprobiert und ihr schließlich auch den Rücken zugekehrt.« Marge konzentrierte sich wieder aufs Telefon. Sie erklärte dem Detective am anderen Ende die Situation.
In diesem Moment ging die Tür auf, durch die Hetty verschwunden war. Hetty schob einen Rollstuhl in die Küche. Darin saß ein völlig in sich zusammengesunkener Mann. Er war kahlköpfig und nur noch Haut und Knochen. Mit den Händen hielt er eine Decke über den Knien fest. Seine dunklen Augen lagen tief in den Höhlen. Seine Haut war gelblich und durchsichtig wie Pergamentpapier.
»Sag guten Tag, Geoff«, befahl Hetty.
»Geraldo«, flüsterte er.
»Geraldo haben dich deine Eltern genannt, Liebster«, sagte Hetty. »Das war dein spanischer Name. Aber du hast schon immer dein Versteckspiel mit mir getrieben. Und wohin hat’s dich gebracht?« Sie sah Decker und Marge an. »Nicht zu glauben, daß dieser Mann einst als der Zuchthengst der englischen Fakultät in Berkeley galt, was?«
»Hetty …«
»Herzchen, leider läßt sich keine deiner alten Liebschaften blicken, um dich zu pflegen. Oder sollte mir was entgangen sein?«
Roberts ließ den Kopf sinken.
»Als Geoff krank wurde, wer ist gekommen, um ihm zu helfen?« fuhr Hetty fort. »Sind Beth oder Jeanie, Pat oder Marie aufgetaucht?«
Roberts’ Mundwinkel zuckten.
»Wer ist gekommen, Liebster?« fragte Hetty.
»Du«, flüsterte Roberts.
»Ganz recht, Liebster. Du hast mich angerufen, weil von allen, die du angerufen hast, niemand gekommen ist. Aber ich bin gekommen, stimmt’s?«
Roberts’ Hände zitterten. »Ja.«
»Ja, ich bin gekommen. Weil ich dich noch immer liebe, Geoff. Trotz allem, was du mir angetan hast, liebe ich dich noch.« Hetty seufzte und tätschelte seine knochige Schulter. »Und ich verlasse dich nie. Nie, wie du mich verlassen hast.«
Tränen rollten über Roberts’ Backen. »Versprochen?«
»Versprochen. Möchtest du frühstücken? Speckomelett?«
»Bitte.« Roberts hob das feuchte Gesicht. »Und stellst du mir den Fernseher an?«
»Natürlich, Geoff.« Hetty schob ihn in die Ecke zu dem kleinen, tragbaren Fernseher, der im Regal stand, und schaltete ihn ein. Dann machte sie sich am Herd zu schaffen.
»Mrs. Roberts, Sie haben doch die ganze Zeit gewußt, daß Ihre Tochter lebt«, sagte Decker unvermittelt. »Warum haben Sie gelogen?«
Hetty antwortete nicht.
»Mrs. Roberts?« drängte Decker.
»Die Hure hat gesagt, daß ich’s tun soll«, murmelte Hetty. »Um Tandy zu schützen.«
»Zu schützen? Wovor?«
Hetty schüttelte den Kopf. »Ich will einen Anwalt.«
»Durchaus fair«, sagte Decker.
Hetty wandte sich heftig um. Ihre Augen blitzten. »Wo liegt der Unterschied? Es ist egal, ob Tandy tot ist oder lebt. Tandy könnte niemals ein Kind großziehen.«
»Das hier ist nicht ihr Kind.«
»Davon weiß ich nichts.«
»Wissen Sie, wo Marie sich aufhält?« fragte Decker.
»Nein. Und es ist mir auch egal. Ich habe das Baby genommen, weil ich dachte, es sei Tandys Kind. Das ist der einzige Grund, weshalb ich es hier habe.« Hetty schlug Eier in eine Schüssel. »Ich wollte nur meiner Tochter helfen. Sie wird jetzt nicht damit fertig, und sie wurde schon damals nicht damit fertig. Das rechtfertigt nur, was ich vor zehn Jahren getan habe.«
»Was haben Sie getan?« wollte Decker wissen.
Hetty biß sich auf die Unterlippe und schwieg.
»Sie haben sie zu den Abtreibungen gezwungen, stimmt’s, Hetty?«
»Nur zu einer Abtreibung. Die andere Schwangerschaft hat sie sich nur eingebildet.«
Decker warf Marge einen Blick zu.
»Dummes Kind. Ich habe ihr gesagt, sie soll vorsichtig sein. Dann ist es passiert, und sie hat mir nie verziehen, daß ich das einzig Richtige getan habe.« Hetty starrte auf den Speck in der Pfanne. »Sie hat mir alles mögliche an den Kopf geworfen, mich beschimpft. Ich habe ihr geraten, sich die Haßtiraden für ihren Vater aufzusparen. Er hatte sie verdient.«
»Wie haben Sie Tandy dazu gebracht abzutreiben?« fragte Decker. »Haben Sie ihr Drogen
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