Die reinen Herzens sind
Schnauze!
»Tandy?« drängte Decker.
»Wenn Sie mich fragen wollen, ob ich wußte, daß Marie vor zwanzig Jahren eine Affäre mit meinem Vater hatte, lautet die Antwort ja.« Ihre Augen glänzten feucht wie frisch lackiertes Ebenholz. »Na und? Mein Vater hatte mit einer Menge Frauen Affären. Er ist ein alter Wichser. Ein übler Wichser!«
»Er hatte viele Affären, aber in Marie hatte er sich verliebt«, sagte Decker. »Marie war der Scheidungsgrund Ihrer Eltern.«
Tandy zuckte. »Ich erinnere mich an nicht viel. Ich war damals fünf.«
»Woran erinnern Sie sich?«
»Nur daran, daß mein Leben in die Brüche ging, an die Wut meiner Mutter.« Sie starrte die Wand an. Dann richtete sie ihren Blick auf Decker. »Das ist alles Vergangenheit, hat nichts mit diesem Baby zu tun. Beschuldigen Sie mich offiziell, oder lassen Sie mich in Ruhe.« Ihre Augen schimmerten erneut feucht. »Lassen Sie mich in Ruhe, bitte!«
Decker und Marge tauschten flüchtige Blicke.
»Wie haben Sie das mit Ihrem Vater und Marie herausbekommen?« wollte Marge wissen.
Tandy blinzelte. »Einfach so.«
»Wie ›einfach so‹?« fragte Decker.
Tandy sprang heftig auf und ging auf und ab. »Mann, ich rede mit Ihnen ohne Anwalt, weil ich nichts getan habe. Aber wenn Sie ständig auf meiner Vergangenheit rumhacken, dann gehe ich durch diese Tür …«
»Warum benutzen Sie Lawrence McKays Lizenz für Ihre Zwecke, Tandy?« fragte Marge.
Dreh ihr den Hals um!
Die hohe Stimme!
Die hohe Stimme war bösartig! Bösartig! Die böse Königin in Schneewittchen. Spieglein, Spieglein an der Wand …
»Tandy, warum …«
»Aufhören!« Tandy wirbelte herum und starrte Marge an. »Hört einfach … Ah, jetzt dämmert’s mir. Schlammschlacht gegen Tandy ist angesagt! Vielleicht sollte ich mir doch einen Anwalt nehmen!«
Decker schob ihr den Telefonapparat über den Tisch. »Bitte schön.«
Tandy starrte den Apparat an. Im Raum wurde es still.
»Ihr Vater war böse, Tandy?« sagte Decker.
Tandy sah ihn ausdruckslos an. »Das waren sie beide.«
»Ihr Vater und Marie?« hakte Marge ein. »Oder Ihr Vater und Ihre Mutter?«
»Alle«, antwortete Tandy leise. »Sie sind alle böse Menschen.«
»Einschließlich Marie«, sagte Marge.
»Einschließlich Marie«, wiederholte Tandy.
»Wie sind Sie auf die Sache mit Ihrem Vater und Marie gekommen?« beharrte Decker.
»Einfach so.«
»Haben Sie Marie erkannt, als Sie ihr im Golden-Valley-Seniorenheim begegnet sind?« fragte Marge Tandys Augen wurden klar und fixierten sie genau. »Meinen Sie wirklich, ich hätte eine Person wiedererkannt, die ich mit fünf mal gesehen hatte?«
»Warum benutzen Sie Leek McKays Lizenz, Tandy?« wiederholte Decker seine Frage.
»Weil es praktisch und nützlich ist. Ich wollte nicht mehr die Schulbank drücken, nur um Sachen zu lernen, die ich schon längst kann! Marie hat gesagt, ich sei besser ausgebildet als die meisten geprüften Schwestern, mit denen sie arbeiten muß. Warum sollte ich meine Zeit vergeuden?«
»Weil es illegal ist, die Lizenz einer anderen Person zu benutzen.«
»Dann verhaften Sie mich doch!«
Decker starrte auf das Tonbandgerät. Sie hatte ihn mit seinen eigenen Waffen geschlagen. Die Frau wich seinen Fallen konstant und geschickt aus. Sie war im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte. Sie wußte besser, was sie tat, als manch anderer.
»Sie haben nichts in der Hand, das mich mit der Entführung in Verbindung bringen könnte«, erklärte Tandy. »Sie haben nicht mal was, das mich mit Marie in Zusammenhang bringt.
Sie haben nur meine Eltern. Die hatten nämlich das Baby, das Marie entführt hatte. Marie ist vermutlich panisch geworden, und dann ist ihr der alte Geoffrey eingefallen. Wie Sie schon gesagt haben, die beiden hatten mal eine Affäre. Bis sie ihm den Laufpaß gegeben hat. Vielleicht dachte sie, sie könne ihn bescheißen. Dafür war er immer gut.«
»Wenn Sie damals erst fünf waren, woher wußten Sie dann, daß Marie Ihrem Vater den Laufpaß gegeben hatte?« fragte Marge.
Bring sie um, die Hure!
Selber Hure!
Tandy begann unkontrolliert zu blinzeln. »Mom hat’s mir gesagt.«
»Sie wußten also, daß Marie die Geliebte Ihres Vaters war, als Sie ihr im Seniorenheim begegnet sind?«
»Nein.« Tandy schüttelte den Kopf. »Nein, das wußte ich nicht. Meine Mutter hatte Maries Namen nie erwähnt. Hat sie immer nur ›die Hure‹ genannt, hat immer nur von ihr als ›die Hure‹ gesprochen.«
Stimmt mit Hettys Aussage überein.
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