Die reinen Herzens sind
Decker sagte: »Wie haben Sie dann herausgefunden, daß Marie ›die Hure‹ ist?«
»Weiß ich nicht mehr.«
Wie hat sie’s herausbekommen, überlegte Decker. Hatte sich Maries Name in ihr Unterbewußtsein eingeprägt? Kam er wieder an die Oberfläche, als sie auf einen handfesten Beweis für die Affäre gestoßen war? Vielleicht hatte sie in Maries Wohnung etwas entdeckt. Aber Decker hatte Maries Apartment gründlich durchsucht, ohne … Er sah Tandy an. Sie lächelte zögernd.
Endlich wieder alles unter Kontrolle!
»Hören Sie! Nicht mal meine Eltern behaupten, ich hätte mit der Sache was zu tun. Sie haben nichts gegen mich in der Hand!«
»Woher wollen Sie wissen, was Ihre Eltern sagen?« warf Marge ein.
»Wenn sie mich beschuldigt hätten, würden Sie nicht so im Dunkeln tappen. Entweder Sie verhaften mich, oder Sie lassen mich gehen.«
»Sie haben Ihre Personalpapiere gefälscht. Das ist ein Vergehen.«
»Dann darf ich eben nicht mehr als Krankenschwester arbeiten. Kann ich jetzt gehen? Oder wollen Sie mich verhaften, weil ich mich für eine staatlich geprüfte Krankenschwester ausgegeben habe?«
Decker schwieg. Tandy paßte exakt in das psychologische Profil der Baby-Entführerin: labil, psychisch unberechenbar, mit unerfülltem Kinderwunsch und anfällig für Scheinschwangerschaften. Aber er hatte keine Beweise. Gegen die Eltern, ja. Gegen Marie, ja. Aber nichts gegen Tandy.
Vielleicht hatte sie tatsächlich nichts mit der Entführung zu tun.
Eine Kleinigkeit jedoch nagte an ihm. Es war eine unbeantwortete Frage. Wie hatte Tandy von Maries Affäre mit ihrem Vater erfahren?
Sicher hatte Marie von sich aus nichts gesagt. Weshalb hätte sie das tun sollen?
Und in Maries Wohnung hatte sie sicher nichts gefunden, das daraufhingedeutet hätte. Decker hatte das Apartment auf den Kopf gestellt. Kein Hinweis auf Maries Vergangenheit, bis auf ein paar alte Manuskripte. Keine Briefe, keine Fotos in ihrem Schreibtisch …
Ihr Schreibtisch!
Der Schlüssel an der Unterseite.
Die vermaledeite Kassette!
Er stand auf, warf Marge einen flüchtigen Blick zu und strich sich über den Schnurrbart. »Sie wissen, daß Ihre Wohnung durchsucht wird. Der Durchsuchungsbefehl ist raus.«
Tandy zuckte die Schultern. »Tun Sie sich keinen Zwang an. Sie finden nichts.«
Decker lehnte sich gegen die Wand. »Wollen Sie wirklich nichts essen?«
Tandy zuckte.
Bring ihn um!
Schnauze! Hau ab!
Die Stimmen verstummten.
»Nein, ich möchte nichts essen.«
»Kein Grund, pampig zu werden«, sagte Decker.
»Ich bin nicht pampig!« konterte Tandy. »Ich finde, ich bin sogar verdammt freundlich unter den gegebenen Umständen.«
»Sind Sie je in Maries Wohnung gewesen, Tandy?«
»Natürlich.«
»Wann waren Sie zum letzten Mal dort?«
»Vielleicht vor einem Jahr.«
»Nicht erst vor etwa vier Tagen?«
»Nein.«
»Was sagen Sie, wenn ich einen Zeugen habe, der Sie dort gesehen haben will?«
»Daß er lügt.« Tandys Augen glühten vor Wut. Sie hielten Deckers Blick stand. »Sie haben keinen Zeugen. Weil ich nicht dort gewesen bin!«
»Sie sind also in letzter Zeit nicht in Maries Apartment gewesen?«
»Nein.«
»Tandy, würden Sie einen Lügendetektortest akzeptieren?«
Töte! Töte!
»Leckt mich doch!« sagte Tandy laut.
Decker sah sie überrascht an. Das Mädchen wurde rot.
»Nicht Sie, Sie waren nicht gemeint.« Tandy zuckte. »Was wollen Sie von mir?«
»Und Sie waren sicher nicht in ihrer Woh …«
»Hab ich doch schon gesagt, nein!«
»Das bedeutet, wir finden in Ihrem Apartment also nichts, das Marie gehört? Immerhin haben Sie sie ja vor ein, zwei Jahren zum letzten Mal gesehen, stimmt’s?«
Jetzt hatte er sie. Tandy wurde bleich.
Bring ihn um!
Die hohe Stimme.
Bring ihn um! Bring ihn um!
SCHNAUZE!
»Tandy?« sagte Decker.
Ihre Gesichtsmuskeln zuckten. Sie blinzelte. Ihr ganzer Körper wurde von einer Serie krampfartiger Zuckungen geschüttelt. »Marie hat mir ’ne Menge Zeugs gegeben. Sie mochte mich, sie hat mich geliebt!«
»Geschenke sind eine Sache«, sagte Decker. »Ich spreche vom persönlichen Besitz Maries. Zum Beispiel von einer Kassette voller Briefe und Fotos …«
»Marie hat mir die Kassette zur Aufbewahrung gegeben. Na und?«
»Aha, Sie wissen also, wovon die Rede ist.« Decker nickte. »Sie wissen von der Kassette, weil Sie sie entdeckt haben. War es während Ihres Aufenthalts in Maries Wohnung, während Ihrer sogenannten Schwangerschaft? Natürlich wissen wir alle, daß Sie
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