Die Reise Nach Helsinki
hielt sie fest und führte sie vorsichtig in den Salon,
wo Dr. Gerstner ihr, wie zuvor schon Louise und Emma, Brom zur
Beruhigung gab.
»Zuerst bitte ich Sie um Verzeihung
dafür, dass ich Sie in dieser Situation mit Fragen belästigen
muss«, sagte er, als Anna sich einigermaßen gefasst hatte, »aber
wir sind verpflichtet, unverzüglich unsere Ermittlungen
aufzunehmen. Wie haben Sie Ihren Vater gefunden? Haben Sie
irgendeine Erklärung für das, was geschehen ist? Ist in der letzten
Zeit etwas Ungewöhnliches vorgefallen? Hatte er Feinde?«
Anna schüttelte den Kopf, dann
brachte sie zwischen Schluchzern heraus, sie wisse nur, dass ihr
Vater zurzeit Probleme mit seinem Kürschner habe. »Aber so was ist
doch normal«, wimmerte sie, »da wird man doch nicht gleich
umgebracht.« Das Paket sei am Vorabend eingetroffen, sie hätten
angenommen, es sei aus Finnland, aber nicht gewusst, von wem es
stamme, es sei kein Absender darauf.
Louise nickte zur Bestätigung von
Annas Aussage, Emma lag apathisch und blass im Sessel und schien
nicht bei sich zu sein. Ab und an erschien Dr. Gerstner und fühlte
ihr den Puls.
»Sie hat schwere Schocksymptome«,
sagte er besorgt, »es ist mir lieber, sie kommt in die Klinik. Ich
denke, ich werde sie nachher persönlich hinbringen.«
Der Sergeant ging in den Flur.
»Haben wir die Flasche sichergestellt? Da müssten sich doch
Fingerabdrücke drauf finden lassen«, sagte er zu seinem
Vorgesetzten.
»Natürlich ist sie sichergestellt,
das ganze Paket ist sichergestellt, es wird alles untersucht. Aber
diese Daktyloskopie, das ist papperlapapp, was soll das schon
beweisen.« Hohenstein sprach laut und abgehackt. »Außerdem haben
wir gar nicht die Ausrüstung.«
»Ich könnte es machen, ich habe
alles, was man braucht, Bleistaub und Paraffin reichen im Notfall.
Wir könnten doch wirklich mal anfangen, eine Kartei aufzubauen
…«
»Hier wird keine Kartei aufgebaut,
hier wird ein Mord untersucht«, bellte Hohenstein.
»Selbstverständlich, Herr
Kommissar.«
Hugo wandte sich unwillig ab. Es
fiel ihm nicht leicht, sich auf der ersten Dienststelle
zurechtzufinden, die man ihm, nachdem er die Polizeischule in
Düsseldorf absolviert hatte, zugewiesen hatte. Ausgerechnet in das
konservative Elberfeld hatte es ihn verschlagen, wo er sich in der
Hauptsache mit streitenden Nachbarn oder hysterischen Bürgerfrauen
beschäftigen musste, denen ein Betrunkener in den Vorgarten
gepinkelt hatte.
Hugo Blank stammte aus einer
wohlhabenden Kölner Familie und gehörte zu den achtunddreißig
Prozent sozialdemokratischer Wähler, die die SPD bei den
Reichstagswahlen im Januar zur stärksten Fraktion gemacht und für
den Wahlkreis Elberfeld-Barmen Friedrich Ebert in den Reichstag
gewählt hatten. Der junge Sergeant war fasziniert von den Methoden
der modernen Kriminologie und wollte sie auch in Elberfeld
anwenden, biss aber bei seinem Vorgesetzten, der das Preußentum
geradezu idealtypisch verkörperte, immer wieder auf Granit.
Besonders hinterwäldlerisch fand Blank, dass Hohenstein sich der
Daktyloskopie widersetzte, die als Identifizierungsmethode
international anerkannt und in vielen Ländern - selbst in Russland
und Indien - bereits eingeführt war. In großen Mordprozessen in
England und Frankreich hatte das Verfahren den entscheidenden
Beweis geliefert, der zur Verurteilung der Täter geführt hatte. Nur
Preußen sperrte sich dagegen, hier setzte man immer noch auf die
Bertillonage, eine erkennungsdienstliche Methode, die auf einer
exakten Vermessung der Delinquenten beruhte. Dies war ein in Hugo
Blanks Augen, aber auch aus der Sicht der fortschrittlichen
Fachwelt antiquiertes Verfahren, das äußerst anfällig für Irrtümer
war.
Der Fall Salander war der erste
Mord, mit dem der Sergeant zu tun bekam, und er nahm sich vor, ihn
zeitgemäß aufzuklären, egal, wie sein Vorgesetzter sich zu seinen
Methoden stellen würde. Notfalls musste er Hohenstein eben manchmal
übergehen und es stillschweigend so machen, wie er es für richtig
hielt. Er ging, als Hohenstein anderweitig beschäftigt war, zu dem
Toten hinein und nahm ihm mit seiner eigenen provisorischen
Ausrüstung aus Paraffin und Bleistaub die Fingerabdrücke
ab.
Gegen Mitternacht kam der
Leichenwagen. Sergeant Blank hielt Anna fest, als zwei
Polizeidiener Pekka auf die Trage legten und mit einem schwarzen
Tuch bedeckten. Das Letzte, was sie von ihrem Vater sah, war sein
Gesicht, das jetzt grau geworden war und über dem eine
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