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Die Reise Nach Helsinki

Die Reise Nach Helsinki

Titel: Die Reise Nach Helsinki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Gibiec
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siehst, wenn die Rentiere in die Gletscherspalten
fallen und verzweifelt grunzen, wenn es so kalt ist, dass dir die
Fingerkuppen erfrieren, kaum hast du sie aus dem Pelz gesteckt,
wenn die Wölfe lauern, die Teufel, und dir die Herde totbeißen. Sie
brennen, sagen die Lappen zu den mordenden Wölfen, sie sind das
Feuer. Aber alles ist besser als diese Unterwerfung, diese
Knechtschaft ein Leben lang, diese Aussichtslosigkeit auf etwas
anderes, nur weil man als Frau geboren ist.
    *
    »Du lieber Himmel, sie mästen einen
ja regelrecht«, stöhnte Anna und schob ihren Teller fort, »wenn das
so weitergeht, müssen wir uns durch Helsinki rollen.«
    Sie saßen im Salon der ersten Klasse
beim Abendessen und hatten sich reichlich von dem Buffett bedient,
auf dem sich Salate, Fleisch- und Fischpasteten, Hummer- und
Krabbencocktails, Dutzende von Käsesorten und Schüsseln voller
Süßspeisen türmten. Der Kellner schenkte immer wieder Wein
nach.
    Ihre Stimmung wechselte, manchmal
waren sie euphorisch und voller Spannung auf Helsinki, dann nahm
wieder die Angst vor allem, was vor ihnen lag,
überhand. 
    »Wenn die Polizisten nachkommen,
muss ich alles beichten«, seufzte Lina, »das ist mir so peinlich,
das kannst du dir gar nicht vorstellen.«
    »Doch, das kann ich, aber mach dir
keine Sorgen, ich helfe dir. Wir sprechen mit dem Sergeanten, dem
Wilhelm sagen wir erst mal gar nichts.«
    Sie waren seit eineinhalb Tagen an
Bord. Nach dem Gewitter hatte die See sich beruhigt, sie hatten den
ganzen Abend und die halbe Nacht geredet, und Anna hatte versucht,
Lina ihre Schuldgefühle zu nehmen.
    »Wenn jemandem überhaupt ein Vorwurf
zu machen ist, dann Papa«, sagte sie immer wieder.
    Der Tag war sonnig, sie hatten
zusammen mit anderen Passagieren der ersten Klasse unter Schirmen
auf dem Vorderdeck gesessen und die weißen Schäfchenwolken
bewundert, die, wie in Pekkas Beschreibungen, zu Tausenden auf der
Himmelswiese grasten.   
    Weiß gekleidete Kellner servierten
Kaffee und Kuchen, später ging man zu Portwein und Sherry über. Der
Stutzer lief hin und her, um einer Dame im Humpelrock gefällig zu
sein, er rückte ihr den Liegestuhl zurecht, besorgte ihr etwas zu
trinken und redete ununterbrochen auf sie ein. Anna und Lina
würdigte er keines Blickes.
    Der Abend war mild, nach dem
Abendessen gingen sie wieder hinaus, um die Fortsetzung des
Himmelsschauspiels zu genießen. Sie waren jetzt so weit im Norden,
dass es nicht mehr richtig dunkel wurde. Die Schäfchenwolken hatten
sich zu vereinzelten dunklen Wolkenschlieren zusammengezogen, der
Himmel färbte sich ganz langsam von Zartblau zu Grün, Rosa und
Orange, die Sonne stand tief über dem Horizont und warf rote
Streifen auf das Wasser.
    Unter der Mitternachtssonne sieht
der Inari-See aus, als habe man Blut hineingegossen, kulta, dann
stehen die Lappen am Ufer und joiken, und man glaubt, man sei nicht
mehr auf dieser Welt.    
    Wie geht joiken, isi?
    Pekka steht breitbeinig und weitet
die Lunge, setzt in der Kehle an. Seine Töne wehen hoch und hell
über den See, über die Berge hin.
    Mit dem joiken erinnern sich die
Lappen, manches wird in Hass erinnert, manches in Liebe, manches in
Trauer.
    Pekka hört auf, weil er so weinen
muss.
    »Wenn man in der Mittsommernacht ein
grünes Feuer leuchten sieht, weiß man, dass darunter Geheimnisse
liegen, vergrabene Schätze oder verborgenes Geld.« Anna verfiel in
den Singsang. »Und wenn man an den Glücksstein kommt, der an jedem
Sommerwohnplatz der Lappen liegt, muss man ihn grüßen und zu ihm
reden wie zu einem Menschen, und dann gießt man ihm ein wenig
Branntwein hin und sagt: Sieh, das ist für dich, trinke auch du ein
wenig.«   
    »Das sind ja richtig magische
Bräuche«, sinnierte Lina, »je mehr ich von Lappland höre, umso
seltsamer erscheint es mir.«
    »Die Lappen sind in Not, man nimmt
ihnen ihr Land und ihre Kultur, sie müssen hungern, weil sie nicht
mehr genug Weideplätze für ihre Rentierherden haben und weil es
nicht mehr genug Pelztiere zum Jagen gibt.«
    »Und deshalb hat dieser lappische
Händler Pekka bedroht?«
    »Nicht direkt ihn«, sagte Anna, »er
hat wohl allgemein damit gedroht, alle Zuchtfarmen niederzubrennen,
weil sie den Lappen den Verdienst nehmen.«
    »Die scheinen ja nicht zimperlich zu
sein, wer weiß, wozu die noch in der Lage sind«, sagte Lina,
»vielleicht sind wir tatsächlich heilfroh, wenn die deutsche
Polizei bei uns ist.«
    Annas Silhouette stand dunkel vor
dem leuchtenden

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