Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Reise Nach Helsinki

Die Reise Nach Helsinki

Titel: Die Reise Nach Helsinki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Gibiec
Vom Netzwerk:
Himmel. »Ich bin so schrecklich aufgeregt, Lina, wo
geraten wir da nur hinein.«
    *
    Sie erwachten, weil die
Schiffsmotoren gedrosselt wurden und laute Rufe zu hören waren.
Schnell schlüpften sie in ihre Kleider und richteten die Haare, um
das Anlegemanöver in Reval zu beobachten. Einige Passagiere, die
Gepäckstücke trugen und offensichtlich von Bord gehen wollten,
hatten sich an Deck versammelt.
    »Da, schau mal, da ist er wieder!«
Anna kniff Lina heftig in den Arm und deutete auf einen Mann, der
in der Gruppe stand. Große, hellblaue, erstaunt blickende Augen,
ein kantiges Gesicht. Der Russe, kein Zweifel. Die Angst schnürte
ihr die Kehle zu, und sie mochte nicht in seine Richtung sehen,
aber Lina reckte neugierig den Hals.
    »Er sieht eigentlich nett aus, und
er scheint von Bord zu gehen. Der will gar nicht nach Helsinki,
schau, Anna, wir haben uns umsonst verrückt gemacht.«
    Das Schiff warf die Anker und
tutete, Matrosen auf dem Kai fingen dicke Taue auf, die ihnen vom
Deck aus zugeworfen wurden, und machten sie an eisernen Pollern
fest, die Gangway wurde heruntergelassen. Der Russe, oder was er
auch immer sein mochte, zog seine Kappe und nickte ihnen kurz zu,
bald war er in dem Gewimmel auf dem Kai verschwunden.
    Anna zitterte und griff nach Lina,
ihre Hände waren eiskalt. »Warum grüßt der uns plötzlich, als wären
wir alte Bekannte? Das ist doch alles nicht normal.«
    Aneinander gedrängt beobachteten sie
die alten Frauen, die in große Umschlagtücher gewickelt auf dem Kai
hockten und selbst gestrickte Socken, bunt gemusterte Zipfelmützen
und gehäkelte Topflappen feilboten. Ein Stück entfernt in einem
anderen Teil des Hafens lagen russische Kriegsschiffe, die nagelneu
in der Sonne glänzten.
    Einige neue Passagiere kamen an
Bord, schließlich legte die »Primula« wieder ab.
    Beim Frühstück konnte Anna sich
immer noch nicht über den Russen beruhigen und brachte vor
Aufregung keinen Bissen herunter. Etwas Ablenkung brachte
schließlich der Stutzer, der mit der Dame im Humpelrock am
Nebentisch saß. Sie strahlte ihn bewundernd an, er winkte unentwegt
nach dem Kellner und spreizte sich, fand Lina, wie ein liebestoller
Pfau.
    Am frühen Nachmittag kam die
finnische Küste in Sicht. Sie packten ihre Sachen und machten sich
zurecht, Lina zog einen dunklen Rock mit heller Bluse an, Anna ein
hellblaues Sommerkleid mit besticktem Ausschnitt, das ihre Augen
grün leuchten ließ. Sie drehte sich nervös vor dem Spiegel.
Soderbergs hatten angekündigt, sie vom Schiff abzuholen, jetzt war
es fast so weit. In weniger als einer Stunde würden sie anlegen und
vor vollkommen fremden Menschen stehen, in einer noch fremderen
Stadt, in der sie sich nicht auskannten und niemanden verstanden.
Wo es eine Schwester und eine Tante gab, mit denen sie vielleicht
gar nicht reden konnten. Und in der wahrscheinlich Pekkas Mörder
herumlief. Annas Herz schlug, Panik schoss ihr in den
Magen.
    »O Gott, Lina, ich glaube, ich kann
nicht, ich sterbe. Es ist doch alles fremd. O Gott, ich glaube, wir
müssen umkehren.«
    »Jetzt wird nicht gekniffen,
außerdem ist es sowieso zu spät.« Lina nahm beherzt Annas Arm und
zog sie nach draußen.
    Die »Primula« glitt mit gedrosselten
Maschinen durch flache Felseninseln, einige waren graubraun und
nackt und ragten wie Schildkrötenrücken aus dem Wasser, auf anderen
standen Büsche und Bäume, vereinzelt auch kleine Häuser.
    »Sieh mal, die Schären. Und das muss
die Festung Viapori [Suomenlinna] sein, siehst du, da vorne auf der
Insel. Mein Gott, was für ein Panorama, Papa hat nicht
übertrieben!« Anna liefen die Tränen, während das Schiff in den
Südhafen einlief.
    Segelschiffe lagen am Kai, rechts
dahinter, im Alten Hafen von Helsinki, glänzten wieder die
Schornsteine russischer Kriegsschiffe. Hinter der Kaimauer ragten
hohe Bürgerhäuser auf, und über allem thronte auf einem Hügel der
von dem deutschen Architekten J.L. Engel entworfene mächtige weiße
Dom, dessen kupferne Kuppeldächer mit goldenen Sternen besetzt
waren. Nicht weniger auffällig lag rechterhand am Wasser, ebenfalls
auf einer Anhöhe, die von den Russen erbaute orthodoxe
Uspenski-Kathedrale aus rotem Backstein, deren Türme von goldenen
Kuppeln gekrönt waren.
    »Da haben sich die Russen ein
Monument hingesetzt«, sagte Anna, »darüber hat Papa sich immer
aufgeregt.«
    Sie standen dicht beieinander, als
das Schiff festmachte, und Anna reckte ihren Kopf, ob sie
Soderbergs in der wartenden Menge

Weitere Kostenlose Bücher