Die Reise Nach Helsinki
hatten bei der
Anprobe nur Augen für ihn und nicht für ihre neue Pelzjacke, darum
ging es den meisten gar nicht. Ich weiß nicht, wie es Ihnen
gegangen wäre, aber manchmal hasst man so einen Menschen eben auch,
vor allem in Zeiten, wo man sich selbst klein und elend fühlt und
niemals das Gefühl hat, dass sich eine Frau auch nur nach einem
umdrehen würde.«
»Nach Ihrem Eindruck war Herr
Salander also ein sehr beliebter Mensch?«
»Bei den meisten Leuten ganz
bestimmt. Vielleicht nicht bei den ganz Kaisertreuen oder bei den
Muckern, aber sonst ja.«
»Bei den Muckern?«
»Das sind die Pietisten hier im Tal,
viele von den Geschäftsleuten gehören dazu, die ganze frömmelnde
Horde, die sich sonntags in den Kirchen herumtreibt. Die mochte er
nicht, und sie ihn nicht, er ging ja mehr in die
sozialdemokratische Richtung, er dachte sehr frei.«
»Darf ich fragen, warum Sie nicht
geheiratet haben?«
Schlipköter wand sich.
»Warum, warum«, sagte er schließlich
und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Es hat sich eben
nicht ergeben, und ich bin vielleicht auch kein Mensch für die
Ehe.« Er atmete schwer.
»Gab es denn mal eine, mit der Sie
es sich hätten vorstellen können?«
Schlipköter versteinerte.
»Sicher würden Sie auch das
herausbekommen, deshalb sage ich es Ihnen«, murmelte er nach einer
Weile, »aber es hat nichts mit dem Fall zu tun, es ist ja schon
zwanzig Jahre her.«
»Ist es eine Person, die uns bekannt
ist?«
»Louise war es, Fräulein
Brüninghaus, mit ihr hätte ich es mir vorstellen
können.«
»Und, warum ist nichts daraus
geworden? Haben Sie sie denn mal gefragt?«
»Mit ihr war es wie mit allen
anderen Frauen auch. Sobald Pekka
auftauchte, hatte sie nur Augen für ihn, sie sah mich gar nicht
mehr. Da habe ich mir die Frage gespart.«
Schlipköter sank noch mehr in sich
zusammen, er wirkte elend und tat Hugo schrecklich Leid. Er trank
den kalten, bitteren Kaffee aus und verabschiedete sich.
»Grüßen Sie meine Kleine«, brachte
Schlipköter trocken heraus, als sie an der Tür standen.
»Das werde ich tun.« Hugo lächelte
ihn an. »Und wir werden ihr nicht den Kopf abreißen. Sie werden Sie
gesund und munter wiedersehen, es wird alles gut werden, Herr
Schlipköter, das verspreche ich Ihnen.«
Während der Rückfahrt sah er aus der
schaukelnden Schwebebahn in die schmutzige, schnell fließende
Wupper. Bei Schlipköter deuteten sich immer mehr Motive an, es sah
ganz so aus, als habe Pekka Salander ihm alle Frauen weggenommen,
die er geliebt hatte. Aber war das ein Grund, jemanden umzubringen?
Eigentlich müsste er nach Bad Neuenahr fahren und Louise
Brüninghaus mit der Aussage konfrontieren, aber das war nicht mehr
zu schaffen. Hoffentlich war es die richtige Entscheidung, der
Reise nach Helsinki Priorität einzuräumen.
Bad Neuenahr, den 12. Juni
1912
Wenn ich richtig rechne, kommt ihr
heute in Helsinki an, meine Anna, ich hoffe und wünsche, dass es
ein guter Aufenthalt für dich wird und du dich mit deinen
finnischen Verwandten gut verstehst.
Ich habe mit Emma darüber
gesprochen, dass das Verdrängen nicht hilft, nicht auf die Dauer.
Das schreibt ja auch dieser Dr. Freud, der zurzeit in aller Munde
ist. Unser Arzt Dr. Vollberg hat einige Schriften im Wartezimmer
herumliegen und bietet Therapien nach seiner Methode an. Dabei sagt
der Arzt nichts, nur der Patient soll reden, in der Hoffnung, dass
irgendwann sein Unbewusstes an die
Oberfläche kommt. Die verdrängten Anteile des Seelenlebens machen
den Körper krank, schreibt Freud, und daran scheint viel Wahres zu
sein. Ich bemerke, dass es mir, seitdem ich angefangen habe, die
Dinge aufzuschreiben, viel besser geht, mein Appetit kehrt zurück,
auch die Kopfschmerzen sind nicht mehr so quälend. Irgendwann
bröckelt die Mauer, die man sich um die Seele gelegt hat. Emma
empfindet das nicht so, wir haben uns doch nun wirklich nichts
zuschulden kommen lassen, sagt sie, wir haben doch dieses
vermaledeite Paket nicht abgeschickt. Mehr sagt sie nicht dazu, sie
lehnt es ab, mit mir über diese Dinge zu sprechen, das tue ihren
Nerven nicht gut, sie schlafe ohnehin kaum. Dabei nimmt sie
Paraldehyd in Mengen und tagsüber dazu noch Brom. Auch wird sie
immer dicker (als würde sich die Seele einen Panzer zulegen), sie
passt in keines ihrer Kleider mehr und hat jetzt auch so einen Sack
in Auftrag gegeben, ein Reformkleid, sie haben gute Schneider hier
in Bad Neuenahr. Emma schwärmt von der neuen
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