Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Reise Nach Helsinki

Die Reise Nach Helsinki

Titel: Die Reise Nach Helsinki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Gibiec
Vom Netzwerk:
du weiß ja selbst, Anna, wie er war, die Dinge konnten aus
ihm herauskommen wie Sturzbäche, aber nur, wenn er es wollte. Wenn
nicht, war nichts zu machen, da konnte man sich an ihm die Zähne
ausbeißen, das Einzige, was man erreichte, war, dass er in tiefe
Depressionen fiel. Du kannst dir vorstellen, Anna, wie mich dieses
Geheimnis gedrückt hat, dass ich etwas wusste, was so stark mit der
Familie zu tun hatte, mit Emmas Leben und mit deinem, und von dem
ihr nie erfahren durftet. Wenn ich darüber nachdachte, hatte ich
manchmal das Gefühl, es bringt mich um den Verstand, deshalb habe
ich es immer wieder im tiefsten Winkel meiner Seele
vergraben.
    *
    »Eisberge gibt es ja wohl nicht in
der Ostsee, oder? Nicht, dass wir auch mit einem
zusammenstoßen.«
    Anna und Lina schoben sich im Hafen
von Lübeck in einer Menschenschlange über die Gangway, die vom Kai
auf die »Primula« führte, ein großes Passagierschiff mit dicken,
schwarzroten Schornsteinen, aus denen immer wieder Dampf in den
hellblauen Himmel schoss.
    »Daran darf man ja überhaupt nicht
denken, wenn man auf ein Schiff steigt. Aber wir befinden uns
schließlich nicht im Wettlauf um das Blaue Band, außerdem ist
Finnland nicht Grönland. Dort ist jetzt Sommer, genau wie bei uns,
sogar noch viel schöner, Pekka hat doch immer davon erzählt. Alles
wächst in rasender Geschwindigkeit, das macht die
Mitternachtssonne.«
    Lina war seit ihrem Geständnis wie
erlöst, sie sprach lebhaft und hatte Farbe bekommen.
    Anna ertappte sich dabei, wie sie
die Menschenmenge immer wieder nach dem kantigen Kopf des Russen
absuchte, ein paar Mal drehte sie sich abrupt um, weil sie glaubte,
ihn gesehen zu haben. Lina versuchte, sie zu beruhigen.
    »Mach dich nicht verrückt, du kannst
ja noch nicht einmal sicher sein, ob es der Mann im Zug war, er ist
doch ganz schnell vorübergehuscht, hast du gesagt.«
    »Aber es kann auch sein, dass er
hinter mir her ist. Schließlich ist mein Vater ermordet worden,
womöglich steckt der russische Geheimdienst dahinter. Vielleicht
haben sie diesen Menschen auf mich angesetzt, vielleicht bin ich
die Nächste.«
    »Natürlich kann das sein, aber alles
andere kann auch sein. Er kann sich als vollkommen harmlos
herausstellen. Was hältst du davon, wenn wir dem Kabinenpersonal
ein gutes Trinkgeld geben, damit sie nachts ein Auge auf uns haben?
Sonst sind wir ja immer unter Leuten, da kann eigentlich nichts
passieren.«
    Anna kämpfte ihre Angst nieder. »Du
hast Recht, es hat keinen Sinn, wenn ich mich verrückt mache. Aber
du musst immer in meiner Nähe bleiben, am besten trennen wir uns
keine Sekunde lang.« 
    Lina versprach es, und sie betraten
Hand in Hand das Schiff. Vom Oberdeck aus beobachteten sie das
quirlige Treiben auf dem Kai. Passagiere drängten an Bord,
Verwandte blieben winkend zurück, Frauen weinten, Paare küssten
sich verschämt, Marinesoldaten mit blauen Kappen, weißen Krägen und
Goldknöpfen auf blauen Jacken patrouillierten auf und ab. Kisten
und Säcke wurden mit großen Ladekränen an Bord gehievt, Matrosen
liefen brüllend und die Arme schwenkend hin und her. Im vorderen
Teil des Hafens lagen Kriegsschiffe mit dicken Kanonen, nicht weit
von der Gangway intonierte eine Marinekapelle
Marschmusik.
    »Unsere blauen Jungs, guck sie dir
an«, spottete Anna. »Die Häfen wimmeln von ihnen, ganz Deutschland
schreit Hurra, das hat unser Admiral von Tirpitz prächtig
hingekriegt.«
    Adele Honscheid hatte durch ihre
journalistische Tätigkeit in Berlin Einblick in die
Öffentlichkeitsarbeit der Militärs bekommen und Anna davon
berichtet.
    »Es ist die reine
Propagandamaschinerie, sie stimmen damit das Volk auf den Krieg
ein.« Adele hatte erzählt, dass das Nachrichtenbüro des
Reichsmarineamtes sensationell aufgemachte Berichte und attraktives
Bildmaterial über die tolle Flotte an die Zeitungen schickte, und
alle, alle druckten sie es. Die Kinder wurden in Matrosenanzüge
gesteckt, ganz Deutschland verschickte Postkarten mit imposant in
Szene gesetzten Kriegsschiffen, und viele Wissenschaftler
verkündeten, der Flottenbau sei der einzige Weg, um den Wohlstand
des Reiches zu erhalten. »Und dieses Einpeitschen wirkt«, empörte
sich Anna, »alle sind begeistert, und der Reichstag bewilligt die
Unsummen, die die Oberschnauzbärte für ihre Armada
brauchen.« 
    »Die Oberhunnen«, sagte Lina
verächtlich in Anspielung auf eine unsägliche Rede des Kaisers, die
er 1900 an deutsche Soldaten gerichtet hatte. Sie sollten in

Weitere Kostenlose Bücher