Die Reise nach Orb - ein Steampunk-Roman (German Edition)
mit dem Schneckentempo, das die 411er zurzeit hinlegt, wird es noch den ganzen Tag dauern, bis wir dort sind.«
»Wie steht es mit den Schremp? Waren das die zwei Einzigen oder lauern noch mehr auf dieser Strecke?«
»Mit weiteren Besuchen müssen wir jederzeit rechnen«, meinte der Mikromechanische. »Sobald einer hochkommt, betätige ich die Pfeifen der Lok. Für mich sind sie keine Gefahr. Ich spreche nicht auf Hypnose an und bin auch nicht aus Fleisch und Blut, und an der Lokomotive sind sie auch nicht interessiert. Ihr könnt euch jetzt mal aufs Ohr legen. Ich halte hier oben die Stellung.«
Martin und Eliane öffneten die kleine Tür hinten im Steuerstand und kletterten die Wendeltreppe hinunter. Unten ging es wieder durch eine Tür, diesmal nicht aus Metall, sondern aus gediegenem Holz. Zu Martins Überraschung war es in der unteren Etage nicht so eng, wie der Zugang über die schmale Treppe vermuten ließ. Im Gegenteil, eine großzügige Kabine erwartete sie, mit zwei breiten Betten, einem Schrank und einer Kommode aus poliertem Holz. Sogar ein kleines rundes Fenster hatte die Kabine auf der Rückseite, mit blütenweißen Vorhängen. Kein Staubkorn und keine Spinnweben waren zu sehen. Alles war blitzblank und sauber. An der Decke brannten zwei elektrische Lampen mit einem spiralförmigen Glühfaden.
»Ich brauche dringend neue Klamotten«, sagte Eliane. »Dieses Outfit ist nicht für eine solche Reise gedacht. Hätte ich meinen Schulterpanzer gehabt, so hätte mir der Mauerziegel nichts anhaben können.«
»Er hätte dich aber nicht vor dem hypnotischen Blick des Schremp geschützt«, wandte Martin ein. »Soll ich dir die Schulter neu verbinden? Deine Wunde sieht nicht gut aus.«
»Ich mach das schon«, sagte sie, »du brauchst nicht an mir rumzufummeln.« Dann begann sie, sich ungeniert auszuziehen und warf die Kleider achtlos auf den Boden. Martin wusste nicht mehr, wo er hinsehen sollte. Trotzdem kam er nicht umhin, festzustellen, dass sie Unterwäsche trug, wie sie wahrscheinlich seine Großmutter getragen hatte. Doch das war nicht mehr als eine Vermutung, kannte er sich doch mit weiblicher Unterwäsche überhaupt nicht aus.
Eliane öffnete den großen Schrank und wühlte in den Kleidern, die dort hingen. Es gab Overalls zuhauf, doch weibliche Kleidungsstücke schienen keine vorhanden zu sein. Frauen waren in Lokomotiven offenbar nicht vorgesehen, stellte Martin fest. Doch plötzlich wurde Eliane fündig. In der hintersten Ecke kamen ein violett-schwarzes Korsett, ein kurzer, ebenfalls violetter Rüschenrock und Leggins aus einem feinen schwarzen Leder zum Vorschein. Dazu eine braune Lederjacke, ein kleiner Damenzylinder mit drauf geschobenen Schweißerbrillen, fingerlose Handschuhe, Unterarmschützer aus Leder und passende Stiefel. Alles schien perfekt zu passen und Martin fragte sich, für wen wohl diese Sachen gedacht waren oder wer sie getragen hatte. Eliane probierte die Kleider an und legte sich dann aufs Bett. Ohne sich um ihn zu kümmern oder ihn eines Blicks zu würdigen, zog sie sich die Decke über und drehte ihm den Rücken zu.
Martin schüttelte den Kopf. Da verstehe einer die Frauen, sagte er sich und legte sich in voller Montur auf das Bett nebenan. Da hörte er plötzlich ein leises Schluchzen, und als er seinen Kopf drehte, bemerkte er, dass Elianes Körper bebte. Sie weinte, wurde ihm klar und er verstand noch weniger von diesem seltsamen Wesen. In den vergangenen Stunden war sie so ruppig, ja regelrecht ungehobelt gewesen und hatte gleichzeitig große Stärke und Mut bewiesen, und jetzt weinte sie im Bett vor sich hin. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Doch der männliche Beschützerinstinkt, der offenbar auch in seinen Genen schlummerte, brachte ihn dazu, aufzustehen und zu ihr hinzugehen. Er setzte sich auf ihr Bett und strich ihr ungeschickt übers Haar. Weinende Frauen waren für ihn eine Katastrophe, mit der er nicht umzugehen verstand. Nachdem sein Vater gestorben war, hatte seine Stiefmutter oft geweint, und er war unfähig gewesen sie zu trösten. Ein Gefühl des Versagens hatte ihn dann jeweils erfasst und bekümmert hatte er sich in sein Zimmer eingeschlossen.
»Was hast du denn?«, fragte er ungeschickt. »Tut dir deine Schulter weh, oder hast du dir beim Sturz von der Lokomotive noch andere Verletzungen zugezogen?« Überhaupt wunderte er sich, wie sie den Sturz von der Plattform ohne Kratzer überstanden hatte.
Sie fuhr herum und fauchte ihn
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