Die Reise nach Orb - ein Steampunk-Roman (German Edition)
Die beiden Sechsäugigen waren mausetot. Ihre gespaltenen Hälse geknickt, die Beine und Arme unnatürlich verrenkt, und als er in ihre offenen Augen schaute, bemerkte er, dass das Schwarze aus ihnen ganz verschwunden war. Sie waren allesamt weiß.
Zum zweiten Mal innert ein paar Stunden kniete er neben Eliane und fühlte ihren Puls. Diesmal spürte er ein schwaches Pulsieren, und als er ihren Körper nach Verletzungen absuchte, konnte er nichts finden. Nur der Schulterverband war verschoben und die Wunde war wieder aufgeplatzt.
»Eliane, ich bin es, Martin. Wie geht es dir?«
Als hätte sie nur darauf gewartet, schlug sie die Augen auf.
»Was ist passiert? Was tust du hier, wo ist die 411er?«
»Wir hatten einen Schremp an Bord und du bist von der Plattform gestürzt. Ich habe die Lokomotive angehalten, um dich zu suchen.«
»Ein Schremp? Ich kann mich nicht erinnern. Aber wenn es ein Schremp war, wieso bist du dann nicht auch von der Lokomotive gestürzt?«
»Weil ich vermutlich immun gegen ihre Hypnose bin. Sie sind doch Hypnotiseure, nicht wahr?«
»Ja, blutsaugende Hypnotiseure. Das war einer der Gründe, wieso diese Eisenbahnlinie eingestellt wurde. Sie sind so schnell, dass sie auch auf einen Zug aufspringen können, der in hohem Tempo unterwegs ist. Sie haben dann jeweils die Passagiere hypnotisiert und dazu gebracht, von den Waggons zu springen.«
Sie erhob sich. Offenbar hatte sie nichts gebrochen. Martin war sich nicht sicher, ob er einen ähnlichen Sturz überlebt hätte, auch wenn ihm zwei Schremp als Puffer gedient hätten. Eliane bemerkte erst jetzt die Unterlage, auf der sie gelandet war. Sie verzog ihre Lippen und schnalzte mit der Zunge.
»So viel Glück kann man nur einmal im Leben haben, und es wird üblicherweise später mit einer entsprechenden Portion Unglück kompensiert.«
In diesem Moment gingen bei der Lokomotive, die etwa dreihundert Meter entfernt stand, drei Lichter auf der Rückseite an. Daraufhin hallte ein Pfeifen durch den gläsernen Tunnel und es machte den Anschein, die Maschine setze sich in ihre Richtung in Bewegung. Der Eindruck täuschte nicht, wie er wenig später feststellen konnte. Die Lok näherte sich tatsächlich im Rückwärtsgang. Als sie von den Scheinwerfern erfasst wurden, verringerte sie ihr Tempo und hielt fast punktgenau bei den Beiden.
»Alles Einsteigen«, rief eine feine Stimme von oben. »Ohne Halt bis Stonehenge.« Es war der Mikromechanische. Eliane und Martin kletterten rasch die Leiter empor.
Der kleine Kerl hing zwischen den Armaturen. Wie er mit seinen dünnen Ärmchen die Hebel und Stellräder bewegt hatte, war Martin ein Rätsel.
»Danke fürs Abholen«, sagte er. »ich kann dich jetzt ablösen.«
»Das ist nicht nötig. Ich habe noch genug Dampf und brauche keinen Schlaf. Aber ihr beide solltet euch etwas ausruhen. Unten in der Ingenieurskabine sind die Betten frisch, als wären sie erst gestern gemacht worden.«
Martin staunte. Betten in einer Lokomotive? Davon hatte er noch nie gehört. Doch in dieser Welt, in die es ihn verschlagen hatte, war vieles anders als dort, wo er herkam. Ob er je in sein altes Leben zurückkehren würde? Wollte er das überhaupt? Diese Welt hier war voll unbekannter Technik und faszinierte ihn. Es gab noch so viel zu erforschen und zu erfahren. Auch wenn überall Gefahren lauerten, es war eine einmalige Chance, hier zu sein. Doch tief in seinem Herzen vermisste er Isabelle, den Basteltisch und das Aquarium mit den Fischen.
»Wo befindet sich denn diese Ingenieurskabine?«
»Exakt unter unseren Füßen«, beantwortete Eliane seine Frage. »Dort hinten neben dem Schrank ist eine kleine Tür und eine enge Wendeltreppe führt nach unten. Früher waren die Züge oft tagelang unterwegs und die Steuerstände doppelt besetzt. Während ein Ingenieur und ein Heizer die Lok fuhren, konnten sich die zwei anderen ausruhen.«
»Hast du die Kessel inspiziert, mein kleiner Freund?«, fragte Martin den Mikromechanischen. »Ist alles noch in Ordnung?«
»Leider nein, wir haben viel Wasser verloren und werden es ohne aufzutanken nicht bis Stonehenge schaffen.«
»Ohne eine neuen Ladung Karbonfluxer sowieso nicht«, ergänzte Eliane. »Schade, dass die Lokomotive keinen Tender hat, sonst würde es anders aussehen. Aber vielleicht finden wir unterwegs noch Vorräte.«
»Wie weit ist es noch bis Stonehenge?« wollte Martin wissen.
»Eigentlich nicht mehr weit und normalerweise würden wir es in zwei Stunden schaffen. Doch
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