Die Reise zum Ich
»Esoterik« (recht verstanden) nichts anderes als verschiedene Etappen ein und derselben Reise der Seele, verschiedene Ebenen, auf denen sich der kontinuierliche Prozeß der Bewußtseinserweiterung, Integration und Selbstverwirklichung abspielt. Mögen die Erscheinungen und seelischen Zustände, mit denen man es jeweils zu tun hat, und die entsprechenden Techniken differieren, so sind doch bei beiden die Kernfragen die gleichen. Zu ihnen gehören, wie schon erwähnt,
von der Bewußtseinserweiterung abgesehen, die Frage des
Realitätsbezuges, der Konfliktlösung und Überführung in immer umfassendere Ganzheiten, der Entwicklung der Entscheidungsfreiheit und der Fähigkeit, sich dem Leben unterzuordnen, der Akzeptierung der Erkenntnisse und vor allem des Verzichts auf Darstellung des Selbstbildes und damit der Identifikation des wahren Selbst oder Wesens.
Diese beiden unterschiedlichen Wege zur geistigen Gesundung
könnte man vielleicht mit den niederen und höheren Weihen
der antiken Mysterien vergleichen. Während die Bemühungen
des Psychotherapeuten auf die Wiederherstellung des »echten«
oder »wahren« Menschen abzielen, strebt die andere Methode
ein Transzendieren des menschlichen Zustands an, eine Befreiung von den Bedürfnissen und Gesetzen, die das menschliche Leben normalerweise bestimmen, indem er sich einem radikal
andersartigen Seinszustand assimiliert. Die Kluft, die das im
Zustand höchster Entfaltung noch strikt begrenzte menschliche
Bewußtsein vom »anderen Ufer« trennt, wird auf vielfältige
Weise symbolisiert: als Brücke oder Ozean, der überquert,
oder als Leiter oder Berg, der erstiegen werden muß; diese
Vorstellung liegt auch den Symbolen von Tod und Wiedergeburt zugrunde, die in allen mystischen und religiösen Traditionen anzutreffen sind.
Ziel der Psychotherapie ist der »echte« oder »wahre« Mensch,
der, von der Erbsünde befreit, sich nicht gegen sich selbst
wendet, sondern von seinen Möglichkeiten zur Selbst- und
Daseinsbejahung Gebrauch macht. Dies ist der Mensch, den
dante in seiner monumentalen Synthese antiker und christlicher Sicht auf die Höhe des Berges der Läuterung, des Purgatoriums, des irdischen Paradieses führt, eines Paradieses freilich,
das noch nicht im Himmel liegt. Denn dieser ist jenseits der
sublunaren Welt des Aristoteles, und seine »Kreise« sind die
Kreise von Sonne, Planeten und Fixsternen.
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So wie dante sich auf seiner Reise erst dann über die Erde zu
erheben vermag, nachdem er den Zustand des irdischen Menschen in seiner Gänze erfahren hat (nach Hölle und Fegefeuer), so haben auch die meisten spirituellen Traditionen erkannt, daß
vor der via unitiva erst die via purgativa durchmessen werden
muß: die Notwendigkeit der Erkenntnis der wahren Natur, die
der Erkenntnis der göttlichen Natur des Menschen vorausgeht.
Erst dann kann er zu Ordnung und Harmonie gelangen und
seine Seele das »Übersinnliche« aufnehmen, das lediglich ein
unserem
normalen
Verständnis
und Bewußtsein entrückter
Teil des sinnlich Wahrnehmbaren ist.
In der Praxis sind diese Phasen nicht klar voneinander getrennt,
denn euphorische Zustände und visionäre Erlebnisse können
schon auftreten, ehe die betreffende Person sich dessen würdig
zu erweisen oder gar ihren Inhalt zu verstehen vermag. Solchen
Erlebnissen gegenüber hegen esoterische und religiöse Schulen
in aller Welt zwiespältige Empfindungen. Einerseits wird der
Jünger von seinem Guru ermahnt, sich nicht durch den Erwerb
abnormer »Kräfte« blenden und vom wahren Ziel ablenken zu
lassen; auch der christliche Mystiker warnt seine geistlichen
Schüler, sich nicht von »Visionen« und emotionalen Verzük-
kungen faszinieren zu lassen, und der Zen-Meister hält halluzinatorische Erlebnisse während der Meditation für makyo (»Teufelswerk«); ganz allgemein gilt die Begegnung des »Unvorbereiteten« mit dem Okkulten als gefährlich. Mit »Vorbereitetsein« ist hier weniger der Besitz von Erkenntnis als vielmehr der Grad der persönlichen Entwicklung gemeint. Ohne diese besonderen Voraussetzungen wird der Weg des Mystikers
zum Weg des Magiers: zur Erforschung des Übersinnlichen im
Dienste des Ego, und nicht zur Erforschung der übersinnlichen
Ordnung, der sich das Ich unterstellt in der Erkenntnis eines
größeren Zusammenhangs, in dessen Rahmen der einzelne sein
wahres Ziel findet.
Andererseits werden solche Einblicke in den Himmel ohne
vorangegangenes
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