Die Reise zum Ich
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Vorwort
Mit wachsender Einsicht in die Natur und Dynamik emotionaler Störungen ist immer deutlicher zu erkennen, daß es für die meisten dieser Erkrankungen keine Über-Nacht-Heilung mit
Hilfe neuer und wundertätiger Sedativa oder Antidepressiva
geben wird. Diese Störungen liegen gewöhnlich tief in der
Persönlichkeitsstruktur des Patienten verankert. Will man ihrer
Ursache zu Leibe rücken und an den Kern der Probleme Vordringen, dann kann man auf eine systematische Psychotherapie nicht verzichten.
Den Statistiken zufolge steigt die Zahl der psychischen Erkrankungen in den meisten Ländern fortgesetzt. Daraus ergibt sich ein schweres Handicap für eine wirksame Vorbeugung und
Therapie: Eine systematische Behandlung in Form einer Psychoanalyse oder einer analytisch orientierten Therapie erfordert extrem viel Zeit. Nur einem Bruchteil der Patienten ist es möglich, die Kosten dafür aufzubringen. Selbst wenn man dieses Hindernis überwinden könnte, müßte eine vielfach größere Anzahl an Psychiatern und Psychologen zur Verfügung stehen,
um den Bedarf an dieser Art von Behandlung zu decken.
Daß man sich unter diesen Umständen sehr um die Entwicklung von Methoden bemüht hat, die den psychotherapeutischen Prozeß intensivieren und damit verkürzen könnten, ist nur zu
verständlich. Doch keine der bislang vorgeschlagenen Verfahrensweisen wurde den idealen Kriterien gerecht.
In den letzten Jahrzehnten scheinen zwei voneinander relativ
unabhängige
experimentelle
Richtungen
auf
diesem
Forschungsgebiet verheißungsvolle Resultate erbracht zu haben.
Die eine besteht in der Anwendung chemischer Agenzien zur
Unterstützung der Psychotherapie; nach der unergiebigen und
im großen und ganzen enttäuschenden Ära der Barbiturate und
Amphetamine hat sie mit der Entdeckung des LSD und anderer
Psychedelica eine wahre Renaissance erlebt. Die zweite wichtige Neuerung besteht in der Entwicklung neuer und recht wirksamer Modifizierungen der psychotherapeutischen Techniken
wie
beispielsweise
den
Encounter-Gruppen,
fritz
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perls’ Gestalt-Psychotherapie, lowens Bioenergetica, Marathon-Sitzungen, ida rolfs struktureller Integration, desoilles rêve éveillé, leuners bildhafte Darstellung psychotischer Halluzinationen und anderer mehr.
claudio naranjo, Verfasser dieses Buches, ein hervorragender
Vertreter beider Hauptrichtungen, scheint mit der von ihm
erreichten Synthese beider Wege - einer mit Drogenbehandlung kombinierten Psychotherapie und anderen neuen experimentellen Techniken - zu einer Lösung des Problems der kurzfristigen Therapie gelangt zu sein.
Viele Jahre hindurch war er dem Esalen Institute in Big Sur,
Kalifornien, der Wiege vieler neuer empirischer Techniken,
eng verbunden. Er leitete dort eine Reihe von empirischen
Untersuchungen und Wochenendseminaren. Dies hatte eine
für ihn wie für die Institutsmitglieder — durchweg Pionieren auf
den verschiedensten Gebieten psychotherapeutischer Techniken - gleicherweise anregende Wechselwirkung zur Folge. Als Schüler von fritz perls ist naranjo mit der Gestalttherapie
vertraut, die er nicht nur erfolgreich in seiner eigenen Arbeit
anwandte, sondern auch durch originale Beiträge bereicherte.
Seine Tätigkeit blieb indes nicht nur auf Kalifornien beschränkt; er machte sich auch als Dozent und Kursleiter in den verschiedensten
Growthcenters
im
ganzen
Land
einen
Namen.
Noch eindrucksvoller sind claudio naranjos Erfahrungen mit
Drogen. Im Lauf der Jahre experimentierte er mit mehr als
dreißig verschiedenen, überwiegend aus Psychedelica und Amphetaminderivaten bestehenden Mischungen, die er zur Unterstützung der Psychotherapie anwandte. Auch machte er eine Forschungsreise im Kanu den Amazonasstrom entlang, um die
Anwendung des Yagé zu untersuchen - ein aus dem Saft einer
Liane hergestellter. Harmin und andere Alkaloide enthaltender Trank, den die Schamanen des Amazonasgebietes zur Erzeugung von Trancezuständen benutzen. Von dieser Reise brachte er Proben der Droge mit; er war der erste, der eine
wissenschaftliche Beschreibung der Wirkungen ihrer aktiven
Alkaloide publizierte. Zwar hat naranjo Erfahrungen mit allen
klassischen Psychedelica gesammelt, sein einzigartiger Beitrag
kommt jedoch aus dem Gebiet neuer, weniger bekannter psychoaktiver Drogen. In den letzten Jahren zwischen den USA und seiner Heimat Chile - wo der Drogenforschung weniger
Restriktionen auferlegt sind - hin und her reisend, führte
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