Die Reise
anderen führt sie in Grübeleien, die falsch sind und ihnen überhaupt nichts bringen.«
»Ich weiß. Religiöse Menschen sind so verbiestert und verklemmt.«
Er fuhr fort. »Die Leute verbringen ihre Zeit damit, irgendetwas anzustellen, um irgendeine Gottheit zu besänftigen. Das ist so viel verlorene Zeit.«
»Meinen Sie damit, dass sie sich lieber um die Armen kümmern sollten oder so?«
»Oft tun sie das ja auch, und das ist gut so. Aber oft ist Religion so … Die Leute bilden sich ein, dass sie Punkte damit sammeln können, wenn sie diese Kleidung tragen oder in jenem Fluss baden oder irgendwelche frommen Vokabeln benutzen oder bestimmte Speisen nicht essen oder Pilgerfahrten machen. Sie finden das überall in der Welt. Bei den amerikanischen Christen heißt es zum Beispiel, dass ein Christ nicht Karten spielen darf oder nicht tanzen oder nicht ins Kino gehen …«
»Oder Alkohol trinken, ja«, ergänzte ich. »Wir haben einmal ein paar Nachbarn zum Kaffee eingeladen, und ein Ehepaar hat sich strikt geweigert, den Rumkuchen auch nur anzurühren. Ich war echt sauer.«
Er lachte. »Wie’s drinnen aussieht ist wichtig, nicht irgendwelche äußerlichen Rituale.«
»Das sehe ich auch so.«
»Wie zum Beispiel die Burka, die manche muslimischen Frauen tragen müssen.«
»Ist das dieser Kleiderkäfig mit Augenschlitzen drin?«
»Genau. Die meisten muslimischen Frauen wollen sich nicht aufreizend kleiden, und das ist ja gut so. Aber viele von ihnen werden bedroht oder geschlagen, wenn sie ihren Körper nicht total verhüllen, und das ist böse. Die Männer haben Angst, dass die Frauen sie verführen könnten, aber Sie könnten eine Frau mit Zement verkleiden, und manche Männer würden immer noch sexuelle Anwandlungen bekommen.«
Ich musste lächeln.
Ich mag diesen Typ. Er redet nicht um den heißen Brei rum
.
Er fuhr fort. »Das Problem ist nicht so sehr, welche Kleidung eine Frau trägt, sondern wie es in den Herzen der Männer aussieht. Manche dieser harten Kleiderregeln dienen den Männern nur als Vorwand, ihre Macht über die Frauen auszuspielen.«
»Da haben Sie völlig Recht«, sagte ich. »Ich könnte Ihnen ein paar Leute nennen, die hier in unserem Land auf der gleichen Welle reiten. In unserem Stadtviertel soll es eine Kirchengemeinde geben, wo Frauen im ganzen Gottesdienst schweigen müssen. Ich hätte Lust, da mal an einem Sonntag hinzugehen und mitten im Gottesdienst aufzustehen und den Leuten zu sagen, was ich von ihrem Verein halte!«
Mein Nachbar kehrte zu dem allgemeineren Thema zurück. »Ich finde es schlimm, wie viel Böses die Menschen im Namen der Religion gerechtfertigt haben – Sklaverei, Rassismus, Kriege, Unterdrückung, Diskriminierung. Ich hasse es, dass die Religion die Ursache von so viel Ignoranz und Aberglauben in der Welt ist. Ich finde es furchtbar, wenn Menschen glauben, dass sie sich von der Religion befreien müssen, um ein normales Leben führen zu können.«
»Ja«, murmelte ich. Ich musste auf einmal wieder an Nick denken.
Mein Sitznachbar ließ sich nicht bremsen. »In der Gegend, wo ich aufgewachsen bin, gingen Religion und Heuchelei Hand in Hand. Ich verabscheue es, wenn die Menschen sich ein frommes Mäntelchen umhängen, aber innen drin sind sie genau das Gegenteil. Ich habe das immer wieder erlebt. Die religiösen Führer beteten ihre Regeln und Paragrafen an, bis sie vor Selbstgerechtigkeit platzten. Dann zwangen sie sie den anderen Menschen auf, die prompt Schuldgefühle bekamen, wenn sie sie nicht einhalten konnten. Das Ganze war ein einziges großes Machtspiel, mit dem die Führer die anderen niederhielten.«
»Wo sind Sie aufgewachsen?«
»Im Osten, in einer kleinen Stadt.«
»Ja, Kleinstädte können ziemlich ätzend sein, hab ich gehört.«
Eine Stewardess kam mit einem Müllsack. Ich reichte ihr die leere Safttüte, aber behielt den Becher, in dem noch etwas Eis war. »Könnten Sie mir etwas Wasser geben?«, fragte ich.
»Natürlich«, erwiderte sie; sie hatte einen Akzent. »Ich hole es Ihnen gleich.«
Sie ging und kam nach einem Augenblick mit einer kleinen Mineralwasserflasche zurück. Als sie mir die Flasche reichte, sagte der Mann auf dem Gangplatz etwas zu ihr in einer Sprache, die ich nicht verstand, die aber irgendwie slawisch klang. Ihr Gesicht erhellte sich, und sie antwortete ihm in der gleichen Sprache. Sie unterhielten sich ein, zwei Minuten lang, bevor sie zurück nach hinten ging.
»Was war das für eine Sprache, die Sie da
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