Die Reisen des Mungo Carteret
zwischen verschiedenen Formen des Denkens unterscheidet. Kaliban, die fünf verschiedene Geschlechtsorgane haben, deren Benutzung nie tabuisiert worden ist, und die keine Ausscheidung körpereigener Abfallproduk te kennen. Und die sollen, selbst wenn man ihnen den immateriell einschlagenden Stein der Weisen erläutert hat, das Gemenge aus Philosophie, Tabus, Ekel und Lust begreifen, das mit dem Wörtchen ›pissen‹ verbunden ist, und mit dem einen armseligen – entschuldige – Organ, das gleichzeitig zeugt und ausscheidet?«
Carteret schloß die Augen. »Das heißt, umgekehrt, daß wir nicht die Spur eines Hauchs einer mikroskopischen Möglichkeit haben, jemals zu begreifen, was in einem Kaliban vor sich geht.«
»So ist es, du armer Kriminalist. Wenn du Glück hast, ist dein Kaliban von einem Anthropoiden mit faßbaren Motiven umgebracht worden – aus Abscheu, Xenophobie, Gedankenlosigkeit, Platzangst, oder weil das Kaliban zuviel Geld bei sich hatte. Wenn du Pech hast, hatte das Kaliban ein gutes persönliches Motiv, einfach zu verschwinden. Und dann« – sie beugte sich vor und bohrte ihren Zeigefinger in Mungos Nabel – »wirst du es niemals finden.«
Er nahm den Finger und berührte ihn mit der Zunge. »Es sei denn«, murmelte er, »es gäbe Spuren – die klassische Spurensuche, weißt du.«
»Abdrücke der Pseudopodien auf dem Stahlboden eines Satelliten?«
Er richtete sich auf. »Wenn das Kaliban tatsächlich in den hydroponischen Gärten war – was wird es da gewollt haben? Luft, klar; aber hat es vielleicht einfach – gegessen?«
Aviva Tschitschagow kniff die Augen zusammen und rümpfte die krumme Nase. »Ja, natürlich. Wieso? Es wird gegessen haben. Wurzeln ausgefahren und derlei. Warum?«
»Was nehmen Kaliban zu sich?«
Sie hob die Schultern. »Allerhand. Wasser, Minerali en, was du willst.«
»Irgendwas besonders gern oder viel?«
Sie zögerte. »Kalzium«, sagte sie dann. »Das könnte etwas sein. Ein drastischer Kalziummangel in hydroponischen Nährböden müßte sich feststellen lassen.«
In Jobourg fand Mungo Carteret eine Nachricht des Residenten von Setebos in Atenoa vor. Er dankte für die Übernahme des Auftrags und bat, »etwa aufzufindende Überreste« unbedingt zu konservieren und an die Residenz auf Gaia zu schicken, »keinesfalls unmittelbar nach Setebos«.
Inzwischen war er sicher zu wissen, weshalb der (oder das?) offizielle Vertreter von Setebos – er/es mußte sich sehr einsam und lustlos fühlen, auf Gaia – den umständlichen Briefweg gewählt hatte. Auch ein kodierter Hyperspruch konnte abgehört werden, und offenbar sollte wirklich alles diskret verlaufen; außerdem war nicht auszuschließen, daß jemand, der einen derartigen Spruch abfing und entschlüsselte, auf eigene Faust das Kaliban suchte, um durch Erpressung einen Teil der ungeheuren Geldbestände von Setebos zu bekommen. Es genügte sogar die bloße Behauptung, das tatsächlich unauffindba re Kaliban in der Gewalt zu haben – wenn die Kaliban auf diese Weise erpreßbar waren.
»Aber was soll das jetzt – Überreste konservieren und auf keinen Fall nach Setebos direkt liefern?« sagte er.
Auf dem Schirm sah er Aviva Tschitschagow angespannt denken.
»Keine Ahnung«, sagte sie schließlich langsam. »Aber es ist seltsam. Eigentlich müßte alles unbedingt sofort nach Setebos.«
»Wieso?«
»Wegen des Kollektivgedächtnisses.«
Carteret seufzte. »Davon hat mir dein Kollege in Oxford erzählt. Aber was hat das mit den Überresten zu tun?«
»Alte Kaliban hegen die jungen Sprößlinge, wie du weißt. Alle alten Kaliban. Sie haben ein eidetisches Kollektivgedächtnis; zusammen mit einem Teil des abster benden Greisenkörpers wird es den jungen gewissermaßen aufgepfropft. Das ist der wichtigste Teil der ›Erzie hung‹.«
Carteret schüttelte den Kopf. »Dann verstehe ich die Anfrage aber wirklich nicht. Warum überhaupt die Sorge um sterbliche Reste?«
»Der Gedächtnisteil scheint sich nach dem physischen Tod des übrigen Körpers noch eine Weile zu halten und kann auch später verpflanzt werden. Aufgepfropft. Damit nichts verlorengeht.«
Zwei Tage verbrachte er damit, Hypothesen aufzustellen und zu verwerfen, Anfragen an tausend verschiedene Stellen zu schicken und die Antworten auszuwerten. Am dritten Tag fand er plötzlich die Lösung, und sie war so einfach und gleichzeitig so verrückt, daß er zwischen hysterischem Gelächter und Fassungslosigkeit schwank te. Außerdem zwischen
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