Die Reisen des Paulus
aus einem Wü-
stenvolk es vermochte, soviel Vitalität und Kraft auf ein Ziel zu konzentrieren, das unerreichbar schien. Paulus hatte in den Jahren nach seiner Bekehrung die Wüste kennengelernt, doch stammte er aus dem nachlässigen und leichtfer-tigen Tarsus. Seine außerordentliche Fähigkeit, abstrakt zu denken, kann nur aus der geistigen Tradition seines Volkes abgeleitet werden. Zudem waren die Juden gute Kaufleute, gleichzeitig aber durchaus nicht unempfänglich für kühne Träume.
Die Apostelgeschichte berichtet vom weiteren Verlauf der Reise mit der ihr eigenen Prägnanz: »Da ihm aber die Juden nachstellten, als er zu Schiff (von Griechenland) nach Syrien wollte fahren, beschloß er, zurückzukehren durch Mazedonien.« Mit ihm kamen einige Gefährten. »Wir aber fuhren nach den Tagen der ungesäuerten Brote mit dem Schiff von Philippi ab« – und zwar nach Troas, wo Paulus bereits erwartet wurde, unter anderem auch von Timotheus. Troas ist heute recht unbedeutend, war damals aber ein wichtiger Hafen, und Paulus liebte Hafenstädte, weil niemand besser Nachrichten verbreiten konnte als die Seeleute. Sie bereisten das ganze Reich, und wenn man unter ihnen Gläubige gewann, würden diese das Wort in die Ferne tragen – nach Italien, Frankreich und Spanien.
Beim letzten Besuch in Troas ereignete sich die berühm-te Geschichte mit dem »Jüngling mit Namen Eutychus«. An einem Samstagabend waren Paulus und alle Gemeindemit-315
glieder zum Liebesmahl zusammengekommen. Danach predigte Paulus »und zog die Rede hin bis zur Mitternacht«.
Wahrscheinlich hatte man sich in einem Raum getroffen, der sich in einem der typischen Mietshäuser der damaligen Zeit befand. Sie waren meist drei Stockwerke hoch und um einen Innenhof gebaut. Eutychus saß in einem Fenster.
Paulus hörte und hörte nicht auf zu monologisieren, und Eutychus hatte vielleicht ein bißchen zu tief ins Glas geschaut – der Wein von Troas war sehr gut –, und so nickte er schließlich ein. Dann sank er in tiefen Schlaf und fiel aus dem Fenster. Alle stürmten die Treppe hinunter. Man hielt ihn für tot. Paulus aber drängte sie beiseite, warf sich über den scheinbar leblosen Körper und sagte, sie sollten sich nicht sorgen, »denn seine Seele ist in ihm«. Erstaunt und erleichtert sahen sie, daß Paulus die Wahrheit gesprochen hatte, und brachten den jungen Mann nach Hause. Eutychus hatte mehr Glück als der junge Elpenor aus Homers Odys-see. In der Nacht, bevor Odysseus und seine Freunde Kirkes Eiland verließen, sprach er dem Wein zu sehr zu und stieg zum Schlafen aufs Dach. Am Morgen verfehlte er die Leiter, fiel mit dem Kopf voran vom Dach und war auf der Stelle tot. Und unglücklicherweise hatte Odysseus nicht die heilende Kraft eines Paulus. Doch die beiden Geschichten sind so ähnlich, daß man unwillkürlich eine entfernte Verwandt-schaft zwischen Homers berühmtem Irrfahrer und dem jü-
dischen Wanderer aus der Apostelgeschichte feststellt.
In tiefster Seele wußte Paulus, daß ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Er sah sozusagen das Ende des Weges vor sich.
Es ist bezeichnend, daß die Gefährten nach dem Abschied von Troas ohne Paulus an der Küste entlang mit dem Schiff 316
nach Assos fuhren. Paulus wollte diese Strecke zu Fuß gehen
– und allein. Er hatte beschlossen, nach Jerusalem und von dort nach Rom zu reisen. Erst mußte er in die heilige Stadt zurückkehren, in die Stadt, wo Christus gestorben war. Und dann kam das Ziel, das er schon so lange vor Augen hatte
– Rom. Das Gedränge und der Schmutz auf dem kleinen Küstenfahrzeug – das wollte er nicht, er verschmähte sogar die Gesellschaft seiner Freunde. Was er jetzt brauchte, war ein Fußmarsch. Nicht um Gläubige zu gewinnen, sondern um seinen Stand zu überdenken und den Weg, den er vor sich hatte. Wo immer er gegangen war in den letzten Jahren, wo immer er sich aufgehalten hatte, ob in Korinth oder in Philippi, überall hatte er hinter sich bedrohlich den Schatten des Sanhedrin gespürt. Er wußte, was die Rückkehr nach Jerusalem bedeutete: Geißelung vielleicht, fast mit Sicherheit Gefangennahme und wohl auch ein erneuter Versuch, ihn endgültig zu beseitigen. Aber das stand nicht in der Macht des Sanhedrin – es sei denn, er ließ es durch gedungene Meuchelmörder besorgen. Außerdem wußte Pau-
lus, daß ihm immer noch eine Zuflucht blieb. Als römischer Bürger konnte er, gleichgültig, wessen man ihn beschuldigte, an die höchste gerichtliche Instanz
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