Die Reisen des Paulus
appellieren, an den Kaiser selbst. Und das hieß: eine Seereise nach Rom auf Staats-kosten.
Er kam nach Assos mit dem gewaltigen Felsen, der von einem Athene-Tempel beherrscht wurde. Er hatte über die Lage nachgedacht und seine Entscheidung getroffen. In ganz Kleinasien, Mazedonien und Griechenland hatte er Gemeinden begründet. Durch ständige briefliche Unterweisung hatte er nach Kräften sicherzustellen versucht, daß sei-317
ne Botschaft nicht verfälscht wurde und daß die Gemeinden ihre Beiträge an die Mutterkirche in Jerusalem entrichteten.
Darin hatte er Jakobus den Gerechten nicht enttäuscht. In Assos ging er an Bord, und sie fuhren weiter an der Küste entlang und erreichten das liebliche Mitylene, Hauptstadt und Haupthafen von Lesbos, von Sapphos Insel. Obwohl die Dichterin schon seit vielen hundert Jahren tot war, sang man auf der Insel, wo einst Orpheus’ Kopf an den Strand gespült worden war, noch ihre Lieder zur Leier. Die Oliven-haine wirbelten, als tanzten sie. Einen Tag darauf waren sie in Chios, Heimat des Katzengamanders, dessen harte ovale Tränen wegen ihrer Heilkraft gerühmt wurden. Dann ging es nach Samos. Hier war Aristarch geboren, der tausend Jahre vor Kopernikus zu dem Ergebnis gekommen war, daß die Sonne der Mittelpunkt unseres Systems sei und die Erde sich wie die anderen Planeten in einer fast exakten Kreis-bahn um sie bewege. Man fragt sich, was Paulus wohl dazu gesagt hätte … Wieder einer von diesen verblendeten Griechen? Dann liefen sie Milet an, die Stadt mit den vier Hä-
fen, deren Hinterland reich an Schafen war. Aus ihrer Wolle stellten die Weber einen berühmten Stoff her, die Milesia vellera. Einst hatte Milet zu den mächtigsten Städten Kleinasiens gehört, und auch zu Paulus’ Zeit war es noch eine bedeutende Ansiedlung mit einem wichtigen Handelshafen.
Aus Milet kam der Philosoph Thales, der im 6. Jahrhundert v. Chr. starb und bereits so viel naturwissenschaftliche Kenntnisse besaß, daß er eine Sonnenfinsternis vorhersagen konnte; aus Milet kam der Philosoph Anaximander, der behauptete, das Unbegrenzte sei der Ursprung aller Dinge; aus Milet kam der frühe griechische Historiker Hekataios. Mi-318
let war also nicht nur eine Stadt des Wohlstands, sondern auch eine Stadt der Kultur – aber Paulus besuchte sie nicht darum. Er wollte Verbindung mit den Oberen der Gemeinde von Ephesus aufnehmen. Ephesus lag etwa 32 Kilometer von Milet entfernt. Warum er nicht hinreiste, ist klar genug: man hatte ihn gewarnt. Die Feindseligkeit gegen ihn sei in Ephesus nicht kleiner geworden. Und wenn er auftauchte, werde das fast mit Sicherheit neue Unruhen auslösen. Er schickte eine Botschaft an die Ältesten und bat sie, ihn zu besuchen.
Wer diesen feurigen, unbezähmbaren kleinen Mann verstehen will, sollte seine berühmte Ansprache an die Ältesten von Ephesus lesen (Apostelgeschichte 20). Er sagt Asien Lebewohl und erklärt, er wisse, daß sie sich nie wieder begegnen würden. »Und nun siehe, im Geiste gebunden fahre ich hin nach Jerusalem …« Diese Worte gaben seinen Zu-hörern wahrhaftig keine Rätsel auf. Er war gesteinigt und geschlagen und gegeißelt worden, er trug die Narben davon am ganzen Körper, und nun ging der Knecht Gottes wis-sentlich in seinen Tod. Irgendwo auf dem Weg nach Assos war er zu dem Schluß gekommen, er könnte zwar noch einige Jahre in Kleinasien oder Griechenland bleiben, müs-se aber eine Entscheidungssituation erzwingen. Die Worte, mit denen der meisterhafte Geschichtsschreiber Lukas das Kapitel beschließt, sind in der Tat bewegend: »Und als er solches gesagt, kniete er nieder und betete mit ihnen allen.
Es ward aber viel Weinen unter ihnen allen, und sie fielen Paulus um den Hals und küßten ihn, am allermeisten be-trübt über das Wort, sie würden sein Angesicht nicht mehr sehen; und geleiteten ihn auf das Schiff.« Paulus ist manch-319
mal – besonders in protestantischen Kreisen – als wenig anziehende Persönlichkeit dargestellt worden, als einer, der das Christentum verfälscht und verdorben hat. Wenn man Nietzsches Behauptung akzeptiert, es habe nur einen Christen gegeben, und der sei am Kreuz gestorben, dann kann man vielleicht mit einigem Recht sagen, Paulus habe die Botschaft Jesu abgeändert. Doch wenn man die Paulinischen Schriften oder die Apostelgeschichte gründlich liest, tritt uns daraus ein Mann entgegen, der bei den orthodoxen Juden zwar glühenden Haß wecken konnte, aber nichtsdestoweniger unendlich
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