Die Reisen des Paulus
Mauer umgeben. Neun Portale führ-
ten hinein, und drinnen enthüllte sich die ganze Pracht des Tempels – als würde man ein Kästchen öffnen und vom un-erwarteten Glanz zahlloser Juwelen geblendet. Überall wei-
ßer Marmor, Goldverzierungen, scharlachne Wandbehän-ge aus Tyrus, Weihrauch in der Luft und alles überhallt von Geräuschen: den Rufen der Geldwechsler, dem Brüllen der Opfertiere, die zum Verkauf bereit standen, den Stimmen von Leuten, die um Preise feilschten. Und dieser merkanti-le Aspekt versetzte vierzehn oder fünfzehn Jahre später einen jungen Mann aus Nazareth in heftigen, aber gerechten Zorn. Mochte Gott auch in der tiefen, von Wohlgerüchen geschwängerten Stille des Allerheiligsten wohnen – der Bezirk davor ähnelte einer Mischung aus Börse, Geschäftskon-ferenz, Wechselstube und Metzgerei. Denn Jahwe forderte wie die heidnischen Götter stets seinen Tribut an Brand-opfern. Jahwe wies noch sehr viele Züge auf, die an einen Stammesgott erinnerten. Obwohl das Gesetz und die Pro-56
pheten systematische Verhaltensregeln vorschrieben, die allen anderen Bestimmungen dieser Art in der übrigen antiken Welt weit voraus waren, hätten die Zeremonien, mit denen Jahwe geehrt wurde, durchaus auch in den Tempel des kapitolinischen Jupiter gepaßt. Vor dem Tempelvor-hang (der das Allerheiligste verbarg) stand ein goldener Altar, auf dem zu Beginn des Gottesdienstes Weihrauch verbrannt wurde. Die dunkle Wolke, die dann emporstieg, trug nach allgemeinem Glauben einen Teil der Sünden des Volkes mit sich fort. Tempeldiener entzündeten die Kerzen auf dem siebenarmigen Leuchter (er verkörperte symbolisch die sieben Planeten) und trugen Sorge dafür, daß das Feuer kräftig und rein brannte. Dann zogen sie sich zurück.
Und nun stieg der Priester, der durch Losentscheid dazu bestimmt worden war, das Opfer vorzunehmen, die Stufen zum Altar empor und legte ausgesuchte Teile des Opfertiers ins Feuer. Blut und Wein wurden über das Fleisch gegossen. Prasselnd und zischend verbrannte die Opfergabe in der Feuerglut, fetter Rauch stieg auf, und der Priester wandte sich den Gläubigen zu und erteilte den Segen: »Der Herr segne dich und behüte dich. Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig. Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.« Und die Gemeinde antwortete: »Ehre sei dem Herrn, dem Gott Israels, von Ewigkeit zu Ewigkeit.« Dann sang der Chor den Psalm des Tages. Die Gemeinde erhob sich. Man hatte seiner Pflicht genügt, konnte wieder ins gewohnte Leben zu-rückkehren und seinen Geschäften nachgehen. Der einzelne durfte aber auch außerhalb der Opfergottesdienste seine eigene Opfergabe bringen, um eine Sünde oder Schuld zu 57
sühnen, ja, man ermutigte ihn sogar dazu. Was Gott nicht geopfert wurde, blieb den Priestern vorbehalten. Nur sie durften vom Fleisch der Tiere essen, die die Sünden wiedergutmachen sollten. Sie hatten noch weitere Privilegien, darunter auch das Recht, sich in dem Gewölbe, das unter dem Hof der Weiber lag, als Bankiers zu betätigen. Viele von ihnen besaßen stattliche Ländereien; außerdem standen ihnen und ihren Familien bestimmte Anteile an den Votivgaben zu. Obwohl das Ritual ihr Leben einschränkte, waren sie bedeutende und mächtige Männer. Als Diener des Herrn erfreuten sie sich eines Lebensstandards, der weitaus höher war als bei den meisten Juden. Die Priester der heidnischen Welt, in der es so unendlich viele Götter gab, führten auf ähnliche Weise ein angenehmes Dasein – indem sie die Unwissenheit und den Aberglauben ihrer Schäflein ausbeute-ten. Und auch die Priester Jahwes lebten recht behaglich: sie ernährten sich von den Sünden des Volkes.
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Später erinnerte sich Paulus mit Stolz daran, daß sein Lehrer ein Mann gewesen war, der höchsten Ruf als Ge-setzesautorität genoß. Er hieß Gamaliel und hatte eine führende Stellung im Sanhedrin inne. Damals folgte der Pharisäismus im wesentlichen zwei ideologischen Richtungen: der strengen und strikt orthodoxen Tradition des Schammai und dem liberaleren Ansatz Hillels. Diese beiden bedeutenden Rabbiner waren Zeitgenossen und lebten, als Herodes regierte. Gamaliel war Hillels Enkel. Hillels Lehre trug schließlich den Sieg davon. In der kleinen Stadt Jabne, in die sich die Rabbiner nach der Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des Tempels (70 n. Chr.) zurückgezogen hatten, entschieden sie sich für die Schule
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