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Die Reisen des Paulus

Die Reisen des Paulus

Titel: Die Reisen des Paulus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernle Bradford
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anders, doch die Rabbiner der normalen Synagogen hatten sich und ihre Familie selbst zu erhalten.
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    Paulus war, als er mit etwa 30 Jahren nach Jerusalem zu-rückkehrte, wahrscheinlich nicht verheiratet. Damit stellte er bei den Juden eine Ausnahme dar. Wenn sein Ehrgeiz ein Sitz im Sanhedrin war, so blieb ihm dies verwehrt, weil er keine Familie hatte. Sollte er aber in diesen Jahren doch geheiratet haben, dann kann man nur vermuten, daß seine Frau jung starb, vielleicht bei der Geburt – was Paulus’ zärtliche Gefühle für Timotheus erklären würde, den er behandelte wie einen Sohn (den er nie hatte oder vielleicht auch verlor). Paulus war kein Frauenfeind, wie es spätere Kritiker immer wieder behaupteten. Sie machten den Fehler, seine Vorstellungen über das richtige und würdige Betragen der Frau mit Misogynie gleichzusetzen. Doch Paulus’ Ver-haltensvorschriften für Frauen haftet kaum etwas oder gar nichts an, was nicht auch ein Rabbi einer strenggläubigen Familie gesagt haben könnte. Außerdem waren die Menschen, die Paulus bekehrte, in der heidnischen Welt mit ihren Myriaden von Göttern und Göttinnen aufgewachsen, in einer Welt, die selbst in den Augen eines nicht allzufrom-men Juden dem Untergang entgegensteuerte. Deshalb war es nötig, die Konvertiten über die Gegensätze zwischen heidnischer und jüdischer Lebensweise zu belehren. Paulus wandelte zwar später das jüdische Gesetz hinsichtlich der Beschneidung ab, aber in anderen Fragen blieb er unerbittlich. Manche paulusfeindliche Äußerungen späterer Jahrhunderte sind aus der Unfähigkeit ihrer Urheber erwachsen, die Gesellschaft des 1. nachchristlichen Jahrhunderts zu begreifen. Tiberius, Nero und Caligula waren keine Einzelfälle.
    Viele andere reiche und mächtige Männer führten ein ähnliches Leben. Es ist unwahrscheinlich, daß Paulus in der Zeit, 87
    von der wir nicht wissen, ob er sie mit Predigtdienst in einer unbedeutenden syrischen oder cilicischen Synagoge oder in seiner Heimatstadt Tarsus zugebracht hat, nicht auch vom Tode eines gewissen Jeschua (latinisiert: Jesus) erfuhr, der sich für den Messias ausgegeben hatte und schimpflich am Kreuz gestorben war. In der jüdischen Welt traten fast ständig Männer auf, die für sich in Anspruch nahmen, der Messias zu sein. Hören wir dazu Günther Bornkamm: »In den 30er Jahren des 2. Jahrhunderts, als Kaiser Hadrian regierte, erklärte der damals geschätzteste Lehrer des Gesetzes, Rabbi Akiba, der Anführer des letzten jüdischen Aufstandes gegen die Römer, Bar Kochba, sei der Messias.«
    Die Nachricht, daß wieder einmal ein Messias-Anwär-
    ter sein Ende gefunden hatte, dürfte Paulus kaum überrascht haben. Das Ende selbst hätte für ihn jedoch diesen Messias als den pathetischsten und am meisten irregeleite-ten ausgewiesen. Man kann sich kaum vorstellen, wie demü-
    tigend und beschämend die Kreuzestafel »König der Juden«
    für die Juden gewesen sein muß. Nehmen wir an, Britannien sei unter Hitler besetzt worden. Die königliche Familie flieht oder kommt ums Leben. Immer wieder flackern Aufstände gegen das Besatzerregime auf, die von Thronanwärtern angeführt werden. Und nun stelle man sich vor, welche Beleidigung und Demütigung es für das besetzte Land gewesen wäre, wenn man den Leiter einer erfolglosen Revolte hingerichtet und über Presse und Rundfunk gemeldet hät-te: »Heute wurde der König von England gehenkt. Mit ihm starben seine beiden Genossen, gewöhnliche Verbrecher wie er.« Doch in Judäa war es noch schlimmer. Denn man glaubte, der erwartete Messias sei mehr als jeder gewöhn-88

liche Mensch und königlicher als jeder König. Er war der Gerechte, der von Gott Erwählte, der Hochbetagte. Sein Kommen kündigte das Weltende und das Gericht über
    alle Völker und Nationen an. Die höhnische Inschrift am Kreuz bedeutet nicht nur: »Hier hängt euer König, schaut, was wir von ihm halten!«, sondern obendrein: »Hier hängt euer Gott, schaut, was wir von ihm halten!« Vielleicht haßte Paulus die frühen Christen auch deshalb, weil sie nicht nur das jüdische Volk dem Spott preisgaben, indem sie einen ganz gewöhnlichen Mann, der als Verbrecher gestorben war, zu ihrem Herrn kürten, sondern weil sie Jahwe selbst dem Spott preisgaben. Denn sie hatten es den Römern ermöglicht, den wahren Sachverhalt zu verdrehen und zu behaupten, nicht einmal der König der Könige könne ihre Macht brechen, er sei etwas Verächtliches, Totes. Jupiter dagegen vermöge

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