Die Reisen des Paulus
knappen Zeitspanne nicht ein wenig die angenehmen Seiten des Daseins genießen? Eines Tages war alles vorbei, eines Tages würde ihn das Dunkel verschlingen.
Es sah so aus, als dächten die Juden ganz anders. Sie schränkten sich selbst mit einem Verhaltenskodex ein, der kaum ein normales Leben ermöglichte. Zum Beispiel hieß es, ihre Gesetze, die von einem gewissen Volksführer aus der alten Zeit namens Mose stammten, enthielten mehr als 600
spezifische Ge- und Verbote, die jeder Jude einhalten muß-
te. Aber es kam noch verrückter – an ihrem heiligen Tag, den sie Sabbat nannten, waren den Strenggläubigeren, den Pharisäern etwa, genau 1521 Dinge untersagt. Wie konnte man nur so leben? Eins war trotzdem klar – daß sie sich nämlich ihren Frauen keineswegs verweigerten. Schließlich vermehrten sie sich wie die Kaninchen; es gab Tausende von ihnen im ganzen Reich! Aber dennoch schienen sie auf irgendeine Weise die sexuellen Freuden zu mißbilligen, betrachteten sie doch mit Entsetzen und Verachtung die Prozessionen der Großen Göttin und die Fruchtbarkeitsriten, die doch nur die Fortdauer der Menschen und der Tiere und die Wiederkehr des Frühlings mit seinen Blumen und keimenden Saaten sichern sollten. Wenn die Juden also die 81
Nichtjuden geringschätzten, beeilten sich die Nichtjuden, diese Gefühle zu erwidern. Von Josephus, Tacitus, Cicero und anderen wissen wir, was der Römer vom Juden hielt.
Er hatte von ihm eine ebenso niedrige Meinung wie Paulus von den Kretern. Hier einige von den Bezeichnungen, die man ihnen zudachte: »Sie hassen die Menschen, sie sind so bösartig, daß sie dem Fremden nicht einmal den Weg zu einer Quelle weisen; abergläubische Anbeter eines Schweine-Gottes (darum, so meinte man, dürften sie kein Schweinefleisch essen); schmutzige, übelriechende Aussätzige.« Im Satiricon, dem Sittenroman des Petronius, der zur Regierungszeit Neros entstand, sagt der Neureiche Trimalchio spöttisch von einem seiner Sklaven: »Er hat nur zwei Fehler.
Er schnarcht, und er ist beschnitten.« Nein, der Jude war nicht beliebt im römischen Reich – »ein Volk von umher-streifenden Krämern« und, was schlimmer war, »jeder Regierung gegenüber ungebärdig und verräterisch«. Wenn so die Allgemeinheit dachte, nimmt es nicht wunder, daß Tiberius sie aus Rom verjagte und Nero bei der Suche nach einem Sündenbock für den großen Brand von Rom auf die radikalste jüdische Sekte verfiel, die selbst von den meisten Juden gehaßt und verachtet wurde: auf die Christen.
Wir wissen nicht, wie lange Paulus als Student in Jerusalem weilte. Wenn er mit fünfzehn Jahren ins Haus der Auslegung kam, hätte er, um Rabbi werden zu können, mindestens fünf Jahre dort bleiben müssen. Es ist etwas zweifelhaft, ob er sozusagen »seinen Abschluß machte«, sonst fänden wir das wohl an irgendeiner Stelle erwähnt.
Interessant, einmal darüber zu spekulieren, ob er tatsächlich ein gescheiterter Student war. Das könnte vielleicht sei-82
nen Haß gegen die Christen erklären (die ihren absurden Messias verkündeten, während er, Paulus der Versager, das Gesetz gut genug kannte, um zu wissen, daß sie Unsinn redeten). Außerdem mag es auch in seinen späteren Auseinandersetzungen mit dem orthodoxen Judentum eine gewisse Rolle spielen – vielleicht hatte er das Gefühl, viele Jahre im Schatten der restriktiven Orthodoxie vergeudet zu haben. Doch im allgemeinen sind solche Spekulationen ebenso fruchtlos wie die meisten modernen Versuche, eine psychologisch fundierte Paulus-Biographie zustande zu bringen.
Man kann sich nicht auf unumstößliche Behauptungen ver-steifen, wenn es um einen Mann geht, der seit fast zweitau-send Jahren tot ist. Man kann nur Vermutungen anstellen, muß dann aber auch zugeben, daß sie hypothetischen Charakter haben. Zu der Zeit, da Paulus entweder noch in Jerusalem studierte oder sich wieder dem väterlichen Zeltma-chergewerbe zugewandt hatte, im selben Jahr, da Tiberius sich auf die Insel Capri zurückzog, bekam Judäa einen neuen Landpfleger. Pontius Pilatus trat sein Amt 26 n. Chr. an und bekleidete es zehn Jahre lang. Das muß man schon als Leistung ansehen, denn es war, wie wir bereits hörten, ein undankbares Geschäft, Judäa zu regieren. Es scheint ihm gelungen zu sein, die Pax Romana recht erfolgreich während seiner Amtszeit zu wahren. Pontius Pilatus stammte aus dem Ritterstand und war der fünfte Prokurator von Ju-däa und Samarien. Trotz einiger Mißgriffe dürfte er
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