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Die Reisen des Paulus

Die Reisen des Paulus

Titel: Die Reisen des Paulus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernle Bradford
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Vaterland verraten. Sie waren konservativ, in mancher Hinsicht konservativer als die Pharisäer, und ihre 94
    Interessen kreisten in erster Linie um den Tempel. Solange sich die Römer nicht in die Angelegenheiten dieses Herzens des Judentums einmischten, waren die Sadduzäer bereit, ihre weltliche Oberhoheit zu akzeptieren. Doch bei den Massenbewegungen spielte immer die Furcht mit, daß die Römer ihre Politik des Wohlwollens ändern könnten. Und das brachte den Tempel in Gefahr. Die Vorgänge des Jahres 70 n. Chr. zeigten dann, wie recht die Sadduzäer daran getan hatten, sich um gute und freundschaftliche Beziehungen zu den Römern zu bemühen.
    Doch die neue religiöse Bewegung verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Dazu kamen die außerordentlichen Ereignisse, die sich etwa zwei Monate nach dem Passahfest begaben.
    Am Fest der Wochen (dem jüdischen Erntedankfest) hatten sich Anhänger des toten Mannes versammelt. Und bei dieser Gelegenheit war angeblich Feuer vom Himmel gefallen, das sie zum Zungenreden befähigte. Glossolalie, wie es fach-lich heißt, die Gabe nämlich, in Sprachen zu reden, die der Sprechende – zumindest theoretisch – nicht kennt, war im Osten durchaus kein einzigartiges Phänomen. Bei den Bac-chus-Riten gaben die Gläubigen, angeregt vom Wein und von der Hysterie, wilde Schreie und unverständliche Laute von sich, die man als Beweis dafür wertete, daß sie vom Geist Gottes erfüllt seien. Auch bei den Attis- und Kybe-lemysterien kam es zu ähnlichen Erscheinungen. Die Priester und Altardiener gerieten in Ekstase, geißelten sich bis zur Raserei, fügten sich mit Messern Verletzungen zu, und von ihren Lippen strömten inspirierte Worte und unartikuliertes Gestammel, was oft ähnliche Reaktionen bei der Zuschauermenge auslöste. Doch anders als üblich hatte der 95
    Anführer dieser Leute, ein Mann namens Petrus, die Worte, die ihm eingegeben wurden, zusammenhängend und verständlich wiedergegeben. Er sagte der Menge, die sich um das Haus versammelt hatte, wo sich das ganze Durcheinander abspielte, sie müßten alle Buße tun, seinen Meister als Erlöser und Messias annehmen und sich taufen lassen. Und der wilde Enthusiasmus erstarb nicht so schnell wie nach einem Bacchanal oder einer Prozession der Großen Mutter Kybele, im Gegenteil, die Bewegung zog immer weitere Kreise. Tausende drängten sich zur Taufe, Tausende wollten diesen Jesus als Messias verehren. Im Tempel herrschte Verwirrung, denn auch dort stiftete der harte Kern der Revolutionäre Unruhe (sie riefen alle zur Buße auf ). Doch damit nicht genug. Die Neubekehrten, von denen die meisten wohl nicht genau wußten, was sie da eigentlich predigten, hielten jeden an, der ihnen über den Weg lief, und redeten auf ihn ein. Genau das hatte die jüdische Obrigkeit gefürchtet: Unruhe in der Stadt, dann Unruhe im Tempel, schließlich und logischerweise eine Intervention der Römer. Es nimmt nicht wunder, daß der Sanhedrin zu einer Notsitzung zusam-mentrat und Petrus sowie Johannes, einen weiteren Rädelsführer, schnellstens verhaften und vorführen ließ. Es drehte sich um eine religiöse Angelegenheit, und da ein Todesurteil oder eine Hinrichtung nicht zur Debatte stand, handelte der Sanhedrin völlig rechtmäßig.
    Als man Petrus aufforderte, er möge sich dem Hohen
    Rat erklären, hatte dieser die Stirn zu behaupten, ein lah-mer Bettler, den er angeblich kuriert habe, sei »in dem Namen Jesu Christi von Nazareth, welchen ihr gekreuzigt habt, den Gott von den Toten auferweckt hat«, gesund ge-96
    worden. Man kann den Zorn der Tempelältesten verstehen.
    Sie waren im Gesetz geschult, waren Schriftgelehrte, die besten Köpfe des Judentums – und hier wollte sie ein ungebildeter Bauerntölpel beleidigen und obendrein auch noch belehren. Außerdem wurden sie unangenehmerweise daran erinnert, daß sie und nicht die Römer auf Jeschuas Tod bestanden hatten.
    Sie befahlen, man solle die Gefangenen erst einmal ab-führen. Dann berieten sie, was zu tun sei. Die einzig vernünftige Lösung schien, diese Leute dazu zu bringen, daß sie friedlich blieben, nie mehr »diesen Namen« erwähnten –
    denn die Mitglieder des Sanhedrin weigerten sich, den Namen Jesus über ihre Lippen kommen zu lassen – und daß sie aufhörten, das Volk aufzuwiegeln. Mehr konnte der Sanhedrin kaum unternehmen, denn draußen – und selbst im Tempel! – schwärmte der Pöbel herum. Schweigen, möglichst totschweigen – das schien die einzig richtige

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