Die Reisen des Paulus
Schrunden als Denkzettel auf dem wehen Rücken. Sollte die ganze Bewegung sich doch totlaufen, verschwinden wie Wasser, das man in den Wüstensand schüttet! Der erste krasse Gewaltakt – an dem die Römer übrigens nicht beteiligt waren – ereignete sich etwa drei Jahre nach Jeschuas Kreuzestod, der die Gemüter so sehr aufgewühlt und die Lage so bedrohlich gemacht hatte. Und jetzt erscheint auch Paulus wieder auf der Szene. Er hatte sich längere Zeit außerhalb von Jerusalem aufgehalten, nun war er wieder zurück, und bald darauf würde er wieder verschwinden – bis zu jenem Jahr, da Pilatus nach Rom zurückberufen wurde. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Paulus – wie so viele andere – dem Sanhedrin als Werkzeug diente. Der Hohe Rat selbst konnte gegen diese widerlichen Anhänger des Galiläers keine Gewaltmaßnahmen ergreifen, denn das hätte den Römern womöglich einen Vorwand geliefert, sich in die Tempelangelegenheiten einzumischen. Aber warum sollte man nicht die Hitzköpfe unter den jungen Juden dazu ermutigen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und gegen diese lästige Dissidentensekte vorzugehen? Es wür-de auch die Römer samt ihrem Statthalter erfreuen, wenn die ungute Atmosphäre in Jerusalem und im ganzen Land dahinschwände. Die Interessen des orthodoxen Judentums und des römischen Reiches überschnitten sich. Wie oft geschah es später in der Geschichte anderer Reiche, daß die 100
Herrschenden nicht eingriffen, sich blind und taub stellten, während gewisse Bürger ihrer Kolonien Handlungen unternahmen, die ihnen zwar genehm, aber nicht gestattet waren.
Akut wurde das Problem durch die Tätigkeit eines jungen Mannes (diese Bezeichnung umfaßte jedes Alter zwischen 20 und 40) namens Stephanus. Er war zum Diakon oder Almosenpfleger der neuen Kirche gewählt worden. Als Almosenpfleger hatte er die Pflicht, die karitativen Aktivitäten zu überwachen und Streitfälle in der Gemeinde zu schlichten. Stephanus gehörte zwar nicht zu den Aposteln, fand aber besondere Beachtung wegen seiner Beredsam-keit und seiner rhetorischen Fähigkeiten. Und so wurde er ausgesandt, um das Wort des Messias unter dem jüdischen Volk zu verbreiten. Er war ungemein erfolgreich – weshalb ihn der Sanhedrin natürlich auf die schwarze Liste setzte. Ungeschliffene Redner ohne Überzeugungskraft konnte man dulden, aber ein Mann, der Verse und ganze Kapitel aus der Schrift zu zitieren vermochte, um den orthodoxen Juden zu beweisen, daß Jesus tatsächlich der Messias war –
ein solcher Mann mußte beseitigt werden.
Man schrieb das Jahr 33 n. Chr. (?), das vierte Passahfest seit dem Tode Christi. In ganz Jerusalem rüstete man sich auf diesen Tag zu. Lämmer blökten, überall standen die Frauen am Herd, machten Brot und zerstießen Kräuter, und in der Stadt wimmelte es von Juden aus allen Teilen des Reiches, die anläßlich des Festes eigens hierhergekom-men waren. Stephanus verwandte den Jahrestag der Passion seines Herrn natürlich dazu, neue Gläubige zu gewinnen, und wurde auf Befehl des Sanhedrin von der Tempelpoli-zei verhaftet. Der Hohe Rat beschuldigte ihn, wider Mose 101
und Jahwe gepredigt zu haben. Man brachte falsche Zeugen bei, die versicherten, sie hätten Stephanus sagen hören, Jesus werde den Tempel niederreißen und die mosaischen Gesetze von Grund auf ändern. Auch jetzt, da er sich der Macht des Sanhedrin gegenübersah, war Stephanus nicht um Worte verlegen. Er widersprach sogar, machte sich Feinde, indem er ausführte, die Juden hätten ihre großen Männer stets verraten, führte Joseph und Mose als Beispiele an und behauptete, sie hätten seinen Herrn und Meister Jesus Christus auf dem Gewissen. Bei der Anklage, Christus werde den Tempel zerstören, wolle er sich gar nicht lange auf-halten. Der Tempel an sich sei gar nichts. Stünde denn nicht bei Jesaja geschrieben, der Himmel sei Gottes Thron und die Erde seiner Füße Schemel? Der Allerhöchste wohne nicht in Tempeln, die Menschen gebaut hätten. Sollte Stephanus den Tod gesucht haben, so ist ihm das ganz und gar geglückt. Jedes Wort, das er sprach, war dazu angetan, seine Zuhörer gegen sich einzunehmen. Unter ihnen – vermutlich saß er bei den Studenten – befand sich auch Paulus.
Der Höhepunkt von Stephanus’ Rede waren die Worte,
die sein Schicksal endgültig besiegelten. Er blickte nämlich
»voll heiligen Geistes« zum Himmel auf und sprach: »Siehe, ich sehe den Himmel offen und des Menschen Sohn zur Rechten Gottes
Weitere Kostenlose Bücher