Die Reisen des Paulus
»Zeitalters der Vernunft«, und der Materialismus des industriell ausgerichteten 19. Jahrhunderts, der so gläubig darauf vertraute, der Mensch werde durch die Ausbeutung der Bodenschätze und natürlichen Energiequellen alle Widrigkeiten und Hindernisse überwinden, werden heute ernstlich angezweifelt. Das Feuer der Re-naissance, die den Menschen als Maß aller Dinge nahm, ist verloschen. Die natürlichen Ressourcen der Erde, zumindest die Brennstoffe, werden bald erschöpft sein. Vielleicht findet die Menschheit wenigstens in einigen Punkten zum Schlichten und Vernünftigen zurück, und dieses Schlichte und Vernünftige könnte sich durchaus als ein Gebiet von psychischen Erfahrungen erweisen, die in manchen Weltteilen in Verges-senheit geraten sind. Ein amerikanischer Professor, Richard H. Bube von der Stanford University, äußerte sich zu diesem Thema wie folgt: »Eine der verhängnisvollsten Unwahrheiten aller Zeiten, die jedoch fast universell geglaubt wird, ist die Behauptung, die naturwissenschaftliche Methode sei der einzig verläßliche Weg zur Wahrheit.« (Bube ist, wohlgemerkt, Naturwissenschaftler und Professor für Elektrotechnik.) 139
Theodore Roazak spricht in Where the Wasteland Ends von der öden »Seelenlandschaft der Rationalität« im Westen und meint in Hinsicht auf »spirituelles Wissen und spirituelle Kraft«: »Hier haben wir einen Bereich, den wir im Namen dessen, was wir Wissen nennen, aus unserer Erfahrung verbannen.« Weder Petrus noch Paulus brauchten an derartige Dinge gemahnt zu werden.
Der einzige Apostel, dem Paulus sonst noch bei seinem Besuch in Jerusalem begegnet ist, war anscheinend Jakobus, der Bruder Jesu – eine umstrittene Gestalt. Man hat endlos darüber spekuliert, was dieses Wort »Bruder« bedeuten mag. Es gibt zwei grundlegende Theorien. Die erste besagt, daß Jakobus sowie die drei anderen »Brüder«, Josua, Judas und Simon, die bei Matthäus und Markus erwähnt werden, Josephs Kinder aus einer früheren Ehe waren. Die zweite Theorie besagt, es handle sich um leibliche Brüder Jesu, um die gemeinsamen Kinder von Joseph und Maria.
Tertullian, eine der ersten und bedeutendsten Autoritäten der frühen Kirche, der im 2. Jahrhundert wirkte, sah keine Schwierigkeit darin, dies als Tatsache anzuerkennen. Gewiß kann man nicht daran zweifeln, daß Jakobus einen wichtigen Platz in der Jerusalemer Gemeinde einnahm. Er war ihr anerkannter Vorsteher und wurde wegen seiner Rechtschaf-fenheit »Jakobus der Gerechte«
genannt. Josephus berichtet, daß Jakobus kurz vor der Belagerung und Zerstörung Jerusalems (70 n. Chr.) vor den Hohenpriester zitiert und aufgefordert wurde, öffentlich dem Glauben an die Göttlichkeit Jesu abzuschwören. Er weigerte sich, bezeugte sogar seinen Glauben, wurde zum Tode verurteilt und von einer Zinne des Tempels in die Tie-140
fe gestoßen. Anscheinend war er der erste Bischof der Kirche. Eusebius zufolge, der im 4. Jahrhundert Bischof von Cäsarea war und außerdem als Kirchenhistoriker arbeitete, zeigte man noch zu seiner Zeit in Jerusalem den Bischofs-stuhl des Jakobus. Jedenfalls wird Paulus auch vom »Bruder des Herrn« weitere Einzelheiten über Leben und Lehre Jesu erfahren haben.
Paulus’ leidenschaftliche Überzeugung kannte keine
Grenzen, und sein rhetorisches Geschick, die Fähigkeit, die Argumente seiner Gegner völlig zu entkräften, brachte ihn bald in Schwierigkeiten. Als besondere »Zielgruppe« hatte er sich die Hellenisten, die griechisch sprechenden Juden, ausgesucht. Mit ihnen befaßte er sich natürlich deshalb, weil er fließend Griechisch sprach – die Apostel und viele Jünger beherrschten es dagegen gar nicht oder wesentlich schlechter als Paulus. Wieder wurden Mordpläne geschmiedet. »Da das die Brüder erfuhren, geleiteten sie ihn nach Cäsarea und schickten ihn weiter nach Tarsus.« Die Christen in Jerusalem müssen aufgeatmet haben, als Paulus fort war. Während seiner Abwesenheit hatten sie ruhig gelebt, neue Gläubige dazugewonnen und überall im Osten Anhänger gefunden.
Dann kam er wieder zurück, und obwohl er nun auf ihrer Seite stand, entflammte der Kampf von neuem. Paulus hatte die Angewohnheit, überall, wo er war, Streit zu provozie-ren. Sein Leben war ein Sturm.
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A
Von 37 bis 45 n. Chr. weiß die Geschichte wieder
nichts über Paulus zu vermelden. Man darf mit ei-
nigem Grund vermuten, daß er sich während dieser Zeit in Syrien und Cilicien aufhielt,
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