Die Reisen des Paulus
bedeckt von ewigem Schnee. Dort wohnten die Götter. Dort hatten sie ihre Paläste, von dort aus beobachteten sie die Torheiten und Leidenschaften der Menschen. Paulus war 160 Kilometer weit gewandert, als er Thessalonich betrat. Die Stadt hatte einen bedeutenden Hafen, Umschlagplatz für mazedonische Exportgüter und Importe aus anderen Ländern. Außerdem war Thessalonich eine freie Stadt, Sitz des Statthalters von Mazedonien, Mittelpunkt der mazedonischen Produktions- und Handelsbetriebe. Deshalb hatten sich hier viele Juden niedergelassen, und Paulus wußte schon von vornherein, daß er eine Synagoge vorfinden würde. Die Schwierigkeiten, die ihm auch in Thessalonich bevorstanden, dürfte er geahnt haben –
Haß von seiten der orthodoxen Juden und Ärger mit der Obrigkeit, weil seine Botschaft Zwistigkeiten erregte. Nach den Erfahrungen, die sie jüngst in Philippi gemacht hatten, mußten er und seine Gefährten viel Mut aufbringen, um sich wieder in die Höhle des Löwen zu wagen.
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Zuallererst wollte Paulus natürlich in der Synagoge sprechen. Die Ältesten luden ihn höflich für den nächsten Sabbat ein. Wie üblich legte er anhand von Zitaten aus den prophetischen Schriften dar, daß Jesus in jeder Hinsicht dem Bild des Messias entsprach. Und wieder predigte er, was die Orthodoxen erbosen mußte: daß ihr Messias nicht der gro-
ße Kämpfer und König sei, der Israel die Weltherrschaft bringe, sondern daß er bereits gekommen, aber von den Rö-
mern auf Betreiben der Juden ans Kreuz geschlagen worden und von den Toten auferstanden sei. Er werde die ganze Welt erlösen, und in seinem Reich seien die Heiden ebenso willkommen wie die Juden. Wie wir aus den beiden Briefen an die Thessalonicher ersehen können, legte er zu dieser Zeit besonderes Gewicht auf die unmittelbar bevorstehen-de Wiederkehr Christi. Jedermann sollte so leben, als würde morgen schon das Jüngste Gericht hereinbrechen. Das war, wenn man einmal so sagen darf, starker Tobak für die Juden und Proselyten und selbst für die Heiden. Die Nichtjuden und Heiden – unter ihnen etliche Frauen, die in der Stadt eine gewisse Rollen spielten – konnten Paulus’ Lehre natürlich leichter akzeptieren als die Juden. Schließlich war man in Thessalonich vertraut mit auferstandenen Göttern, die Erlösung verhießen. In der ganzen Gegend fanden sich Anhänger des Dionysos- und Orpheuskults.
Die Orpheusverehrung weist zahlreiche mystische Züge auf, die wir genauer betrachten müssen, um zu verstehen, wie wohl ein Heide die Paulinische Lehre vom wiederauferstandenen Christus aufgenommen haben mag. Orpheus
war der sagenhafte Stifter jenes Kultes, der unter der Bezeichnung Orphik bekannt wurde. Es ist sehr wahrschein-252
lich, daß viele Jahrhunderte zuvor eine Reihe von thrakischen Priesterkönigen den Namen Orpheus getragen hatte.
Orpheus war jedenfalls der Sohn eines thrakischen Königs (oder der Sohn Appollos). Seine Mutter war die Muse Kal-liope. Nach seiner Rückkehr von der Fahrt der Argonau-ten heiratete Orpheus die Nymphe Eurydike, die an einem Schlangenbiß starb. Untröstlich stieg Orpheus mit der Leier, die ihm Apollo geschenkt hatte, in den Hades hinab und bezauberte die Götter der Unterwelt so sehr mit seinem Gesang und Spiel, daß sie Eurydike erlaubten, in die Oberwelt zurückzukehren. Nur eine Bedingung war daran geknüpft: auf dem Weg dorthin durfte Orpheus sich nicht umdrehen. Aber im letzten Augenblick, kurz bevor sie dem Hades entronnen waren, wandte Orpheus sich doch noch um. Er war ungeduldig, er wollte sehen, ob Eurydike ihm tatsächlich folgte. Und sogleich wurde sie ihm entrissen und mußte ins Schattenreich zurück. Zum zweitenmal hatte Orpheus seine Frau verloren. Sein Schmerz war so groß, daß er alle anderen Frauen mit Kälte und Verachtung behandelte. Schließlich wurde er von thrakischen Bacchantin-nen in Stücke gerissen. Seinen Kopf warfen sie in den He-bros. Er schwamm ins Meer hinaus und trieb in Lesbos an (daher galt Lesbos als frühes Zentrum der Musik). Die anderen Körperteile wurden von den Musen aufgelesen und am Fuße des Olymps bestattet. Dieser Mythos ist geläufig genug, doch war er überdies eng mit dem Kult des Dionysos verbunden, jenes thrakisch-phrygischen Gottes, bei dessen orgiastischen Ritualen die Omophagie, das Verzehren von rohem Fleisch, eine bedeutende Rolle spielte. Dazu Walter Pater in seinem Werk Study of Dionysus: »Und nun sehen 253
wir auch, warum die Tradition des
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