Die Reisen des Paulus
Menschenopfers in Griechenland im Zusammenhang mit dem Dionysoskult fort-
leben konnte, und zwar nicht als etwas Nebensächliches, sondern durchaus als aktuelle Wirklichkeit. Dionys von Ha-likarnassos rechnet dies zu den Schrecken der griechischen Religion. Daß die heiligen Frauen des Dionysos bei mystischen Zeremonien rohes Fleisch aßen und Blut tranken, ist eine oft erwähnte Tatsache. Wie es scheint, erinnert dieser Brauch an ein echtes Opfer, bei dem ein schöner Knabe in Stücke gerissen wurde. Daraus entstand mit der Zeit ein lediglich symbolisches Opfer.«
Zum Wesen der Orphik gehörte also das Opfer, dem
eine Erneuerung des Lebens folgte. Die ursprüngliche Mythe – vielleicht stand ganz am Anfang ein alljährliches Menschenopfer, das die Wiederkehr des Frühlings sichern sollte – wurde allmählich von intellektuellerem, ja spirituellem Gedankengut überlagert. Man sah den Menschen als teils gut und göttlich, teils böse und gottlos an. Wichtigstes Ziel war es, das Böse auszutreiben. Das geschah durch eine Reihe von Reinkarnationen. Schließlich wurde die völlig geläuterte Seele vom »Rad der Geburt« erlöst. Man kannte in der Orphik sehr wohl den Begriff der Sünde. Überdies glaubte man an die Notwendigkeit der Buße, an die Passion und den Tod eines Menschengottes und schließlich an die Unsterblichkeit der vom Übel befreiten, mit dem Göttlichen vereinten Seele. Die Orphik beeinflußte Philosophen wie Platon und Py-thagoras, fand in ganz Griechenland Verbreitung und drang auch nach Italien vor. Das ereignete sich, etwa fünfhundert Jahre bevor Paulus mazedonischen Boden betrat. Die Strenge seiner Religion dürfte die Griechen nicht überrascht ha-254
ben. Selbst die jüdischen Speise- und Hygienevorschriften werden für Menschen, die mit der Orphik vertraut waren, nichts Neues gewesen sein. Denn in der Orphik gab es ähnliche Gebote. Die Gläubigen durften das Fleisch aller möglichen Tiere nicht essen (ausgenommen vielleicht beim mystischen Mahl) und mußten alle Handlungen und Situationen meiden, die man als unrein betrachten konnte – so sollten sie weder der Geburt noch dem Tod eines Menschen bei-wohnen. Die Eingeweihten trugen weiße Kleider und lebten asketisch. Goldene Schrifttäfelchen, die man in Gräbern bei Rom, in Sybaris (Süditalien) und auf Kreta gefunden hat, geben uns weitere Aufschlüsse über den Kult. Sie enthalten Fragmente von Mysteriengesängen und wurden den Toten wohl beigegeben, damit sie unter göttlichem Schutz standen und in die göttliche Welt eingehen konnten. Hier tauchen Wendungen auf wie: »Ich sterbe vor Durst, gib (gebt) mir von den Wassern des Gedächtnisses zu trinken«, »Ich habe die Strafe für die Ungerechtigkeit abgebüßt«, »Aus der Reinheit komme ich« und »Ich bin dem mühseligen, un-glücklichen Kreis des Lebens entflohen«.
Als Belohnung wird dem Gläubigen, der in die orphi-
schen Mysterien eingeweiht ist, ein glücklicher Ausgang ver-sprochen: »Oh, du Seliger und Gesegneter, du hast deine Sterblichkeit abgelegt und du sollst göttlich werden.«
Was Paulus predigte, unterschied sich insofern erheblich von den orphischen Mysterien, als das Christentum kein exklusiver Zirkel war, der zur Erlösung einiger weniger Auserwählter und Eingeweihter diente. Das Christentum nahm alle auf. Selbstverständlich besaß es so manche Ähnlichkeit mit den Mysterienreligionen; in der späteren Entwicklung 255
ergeben sich sogar Parallelen (Geheimhaltung und Rückzug in die Katakomben zur Zeit der Christenverfolgungen). Doch keine Mysterienreligion gebot die Nächstenlie-be. Zwar verhießen sie die Erlösung, aber trotzdem – den letzten beißen die Hunde! Paulus, Silas und Timotheus erhoben sich und sagten, ihr Gott sei leibhaftig auf Erden gewandelt (also keine Sagengestalt wie Attis und Orpheus) und seine Gnade und Liebe schließe alle ein. Das war das Revolutionäre. Die ausdrückliche Betonung dessen, daß jeder angenommen werden konnte, stellte für die Juden einen Affront dar. Wer sich ihren Riten, ihren Sitten und Ge-bräuchen nicht fügte, gehörte auch nicht dazu, nicht einmal als Bürger zweiter Klasse im verheißenen Königreich. Das Ende von Paulus’ Aufenthalt in Thessalonich war abzuse-hen – und unvermeidlich.
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A
Kurz bevor Paulus, Silas und Timotheus aus Philip-
pi ausgewiesen wurden, hatte Kaiser Claudius einen
Beschluß gefaßt, der sich als folgenschwer auch für Paulus’ Zukunft erweisen
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