Die Reisen Des Paulus
Wir hörten bereits, daß Apollonios sich aus der Stadt zurückzog, weil ihm die Atmosphäre einfach nicht behagte.
Er meinte, ihre Bewohner seien nichts weiter als Hanswur-ste, die sich mehr um ausgefallene Gewänder kümmerten als um alles andere. Tarsus war in der Tat »eine namhafte Stadt«, aber hier trat nur allzu klar zutage, welche Sittenlo-sigkeit und welche innere Leere letzten Endes in der heidnischen Welt herrschten. Die Eltern des Knaben dürften zur wohlhabenden Mittelschicht gehört haben. Sein Vater war Zeltmacher – ein Beruf, der in unserer Zeit kaum noch Bedeutung hat, damals jedoch unserem Wohnwagenfabrikanten oder einem Unternehmer, der Sozialwohnungen baut, entsprach. Im ganzen Osten lebten Millionen von Menschen in Zelten. Solides Haus und fester Wohnsitz waren vor allem Privilegien von Städtern. Mit sechs Jahren begann Paulus wohl im Haus des Buches zulernen. Dies war das jü-
dische Unterrichtszentrum in der Synagoge, wo man im Lesen und Schreiben sowie im Gesetz unterwiesen wurde. Die 31
dafür notwendigen Gelder stammten aus einer Steuer, die die jüdischen Ältesten der ganzen Gemeinde auferlegten.
Die Unterweisung begann mit dem ersten Kapitel des Levi-ticus: »Und der Herr rief Mose und redete mit ihm aus der Stiftshütte und sprach …« In den Tagen, Wochen, Monaten und Jahren religiöser Erziehung lernten der Knabe Paulus und seine Mitschüler das gesamte Gesetz auswendig –
ähnlich wie sich die griechischen Sänger den ganzen Homer einprägten. Die Schriften, die sie studierten, waren auf Althebräisch abgefaßt, der Unterricht dagegen dürfte auf Aramäisch (die hebräische Umgangssprache der damaligen
Zeit) oder auf Griechisch erteilt worden sein. Dabei handelte es sich um ein vereinfachtes Griechisch, das überall in der Levante als Lingua franca diente. Paulus wuchs in einer strenggläubigen jüdischen Familie auf, aber die Welt, in der er lebte, wurde von Rom regiert und von der griechischen Sprache beherrscht – und in all das mischten sich orientalisches Volkstum und orientalische Religionen.
Paulus’ Familie mochte sich zwar von ihrer Umgebung
fernhalten, doch ignorieren konnte sie sie nicht. Ein Jude, der daneben römischer Bürger und Geschäftsmann war wie Paulus’ Vater, konnte seine nichtjüdischen Nachbarn nicht einfach meiden – ebensowenig der Knabe. Und bei seiner Empfänglichkeit für Eindrücke wird Paulus sich nicht nur die Kenntnis des Gesetzes erworben, sondern auch ein wenig von der Atmosphäre dieser Stadt mit ihren vielen Farben und Düften in sich aufgenommen haben.
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S K
Friede und Sicherheit waren die zwei großen Segnungen, die Augustus der Mittelmeerwelt gebracht hatte. Trotz der Mängel seiner Herrschaft spürte fast jedermann, daß die von ihm befohlene und geschaffene Pax Romana eine Wohltat war, zumal nach den Schrecken der Bürgerkriege. Die ganze bekannte Welt war durch die Kämpfe zwischen Cä-
sar und Pompejus und danach durch die Auseinandersetzungen zwischen Augustus, Antonius und Pompejus’ Sohn zerrissen gewesen. Als Augustus schließlich siegte und ein straffes autokratisches Regiment einführte, nahmen die Unruhen ein Ende. Vom goldenen Meilenstein auf dem Forum Romanum gingen etwa 5000 Kilometer hervorragende Stra-
ßen aus, die sich wie lebenspendende Arterien durchs ganze Reich verzweigten. Auf diesen Straßen marschierten die Legionäre des Augustus – sichtbares Zeichen für alle Völker, daß die römischen Waffen stets gegenwärtig waren. Auf ihnen eilten die Kuriere dahin, die die kaiserlichen Befehle weitergaben oder mit Botschaften aus den Provinzen und Depeschen von den Statthaltern in die Hauptstadt zurückkehrten. Erst im 18. Jahrhundert – und dann noch nicht einmal in ganz Europa – fand man wieder ein ähnlich effi-zientes Straßennetz: mit Stationshäusern, die von der Regierung unterhalten wurden, Dienstleistungen erbrachten und ausgeruhte, frische Pferde zur Verfügung stellten. Im Mittelmeer, das Pompejus zum größten Teil befriedet hatte, wurde die Handelsschiffahrt jetzt unbehindert abgewik-kelt. Die Piraten, die das Mittelmeer, insbesondere das öst-33
liche Becken, unsicher gemacht hatten, waren ausgeschaltet.
Auf den großen Getreideschiffen und den kleineren Frachtern brauchte man nicht mehr zu befürchten, daß plötzlich Seeräuber hinter einer Felsnase hervorgeschossen kamen.
Soweit Paulus’ Vater denken konnte, hatten sich im
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