Die Reisen Des Paulus
brauchte sich nicht zu beunruhigen, denn er, Athenodorus, werde die Sache selbst in die Hand nehmen. Die Sänfte traf im Palast ein und wurde in die kaiserlichen Ge-mächer getragen. Augustus trat heran, gierig wie ein kleiner Junge, gierig auf diesen neuen »Gang« als erbarmungsloser Frauenvielfraß, der er war – als zu seiner Verblüffung sein Mentor mit gezücktem Schwert aus der Sänfte sprang.
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»Augustus!« rief der Philosoph. »Hast du nie Angst, daß eines Tages dich jemand so ermorden könnte?«
Zwar war der Kaiser ein notorischer Ehebrecher (und
seine Gattin Livia leistete ihm oft Kupplerinnendienste), zwar konnte ihn nichts davon kurieren, aber jetzt bedankte er sich bei Athenodorus für das geglückte Exempel. Er dürf-te wohl angeordnet haben, daß die Frauen, auf die er es abgesehen hatte, ohne Versteckspiel zum Palast kommen sollten. Schließlich war Athenodorus Roms müde und bestand trotz kaiserlicher Proteste darauf, nach Tarsus zurückzukehren. Dort fand er eine durch und durch korrupte Verwaltung vor, die die Stadt ausplünderte. Er machte sich die Gunst des Kaisers zunutze, vermochte so, die Ausbeuter-herrschaft zu brechen, und sorgte dafür, daß Tarsus wieder gut geführt wurde. Daraus können wir ersehen, daß er nicht nur Philosoph, sondern auch ein Mann der Praxis war. Sein Leben läßt sich am besten in einer Maxime zusammenfas-sen, die von ihm selbst stammt: «Du bist nur dann frei von Leidenschaft, wenn du von Gott einzig das erbittest, worum du ihn auch offen bitten würdest.« Es gab also auch au-
ßer den Juden Menschen, die rechtschaffen und ehrenwert lebten.
Aber die heidnische Welt hatte noch ein anderes Ge-
sicht, das Paulus, der in dieser Provinzhauptstadt heran-wuchs, bemerkt haben muß. Wie die meisten orientalischen Städte war Tarsus ein Mittelpunkt der Fruchtbarkeitskulte, die seit undenklichen Zeiten in diesem Teil Asiens verbreitet waren. Durch die Straßen zogen Prozessionen zu Ehren der Großen Erdmutter, jener Göttin, die in der Jungsteinzeit die ganze Levante beherrscht und noch lange danach in der ky-29
kladischen und kretisch-minoischen Kultur fortgelebt hatte. Durch die Straßen schritten die Priester und Priesterinnen der Isis, einer anderen Muttergottheit, die, lange bevor die Juden in die Gefangenschaft wanderten und lange vor ihrem Auszug, Ägypten regierte. Zu den wichtigsten Kulten gehörte der Dionysos-Kult. Dionysos war nicht nur Vater und Förderer des Weines, sondern auch ein Gott, dessen Verehrung starke mystische Elemente enthielt: er versprach nämlich die Wiederauferstehung in einer neuen und besseren Welt. Als Mark Anton über die östliche Hälfte des rö-
mischen Reiches gebot, hatte er sich selbst den neuen Dionysos geheißen. Und als Dionysos begrüßten ihn die Bürger von Tarsus. Kleopatra bejubelten sie als Venus Anadyome-ne, als die Schaumgeborene. »Aphrodite ist gekommen, um mit Dionysos zum Wohle Asiens zu feiern«, sagte man in Tarsus. Die Stadt wies noch mehr Züge auf, die nicht einmal einem jüdischen Schuljungen entgehen konnten. Spä-
ter schrieb Paulus: »Ich aber lebte vormals ohne Gesetz, als aber das Gebot kam, ward die Sünde lebendig, ich aber starb …« Der Bezug ist etwas unklar, doch liegt hier gewiß die Vermutung nahe, daß Paulus irgendwann in seinem Leben, wahrscheinlich während seiner Jugendzeit in Tarsus, den sinnlichen Versuchungen erlag, von denen er umgeben war. Schließlich war er – so F. A. Spencer – »ein hochsen-sibler, mit starken Gefühlen begabter jüdischer Knabe, der in einer Stadt lebte, wo es tausend Dirnen und Lustknaben gab«.
Wie in den meisten östlichen Städten wurde in Tarsus das Laster nicht versteckt, sondern öffentlich zur Schau gestellt. Die bescheidenen jüdischen Frauen gingen nur sel-30
ten außer Hauses, und wenn, dann mit Kopfbedeckung und verschleiertem Gesicht, aber die Straßenmädchen sah man überall auf Kundenfang. Sie trugen das Haar hochgesteckt und waren extravagant geschminkt. Überall trippelten auch ihre männlichen Gegenstücke einher, obszöne Gesten untereinander austauschend, parfümiert und ebenso sorg-fältig frisiert und geschminkt wie ihre »Schwestern« vom ältesten Gewerbe. Im Osten betrachtete man die Homosexualität keineswegs mit Abscheu. Da die heiratsfähigen und verehelichten Frauen aus den achtbaren Familien fast ein Haremsdasein führten, war Homosexualität unvermeidlich – und ist es bis heute in vielen solchen Ländern geblieben.
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